Nach dem Attentat hält US-Politik inne

Hat die Propaganda der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung den Mörder von Tucson zu seiner Tat getrieben? Das politische Amerika stellt sich genau diese Frage – und diskutiert bereits über Personenschutz für seine Volksvertreter. Unterdessen durchkämmt das FBI das Umfeld des Täters.

Am Weißen Haus wehen die Sternenbanner auf Halbmast. Präsident Barack Obama hat Trauerbeflaggung angeordnet. Mit einer Schweigeminute gedachten er, seine Ehefrau Michelle und viele andere Amerikaner der Opfer des Blutbads von Arizona. Bei dem Attentat wurden sechs Menschen getötet und 14 verletzt. Den Zustand der Kongressabgeordneten Gabrielle Giffords, die Ziel des Anschlags war, bezeichneten die Ärzte gestern als stabil.

Viele Amerikaner empfinden die Tat von Tucson als nationale Tragödie – und als Mahnung, dass wieder Sachlichkeit und zivile Streitkultur einziehen müssen in den aufgeheizten politischen Diskurs.

Der Kongress ändert rigoros sein Programm: Eine Abstimmung über die Gesundheitsreform, genauer gesagt, der Versuch der Konservativen, die Reform nachträglich auszuhebeln, wurde abgesagt. Das Parlament übt den Schulterschluss – zumindest in dieser Woche. Staatsmännisch weise klingt John Boehner, ein Republikaner, ansonsten ein Freund polemischer Zuspitzung: "Ich rufe alle Abgeordneten auf, sich um ihre verwundete Kollegin zu scharen", sagte der neue Vorsitzende des Repräsentantenhauses und kündigte an, die Sicherheitsvorkehrungen zu überpüfen.

Zur Debatte steht, jeden Volksvertreter durch Leibwächter schützen zu lassen, rund um die Uhr. Noch vor Wochen hätte man über so einen Vorschlag nur gelacht. Der direkte, spontane Dialog zwischen Wählern und Politikern gilt in den USA als selbstverständlicher Bestandteil der Demokratie. Die Diskussion zeigt nun, wie laut nach den Schüssen von Tucson die Alarmglocken schrillen. Worum es im Kern geht, das fasst James Clyburn, einer der alten Männer der Demokraten, in einem einzigen Satz zusammen. "Wir alle sollten anfangen, uns zu fragen, wie unsere Worte auf Menschen wirken, besonders, wenn diese Menschen mental instabil sind."

Es ist nicht das erste politisch motivierte Attentat in den USA. Neu aber ist, dass es heute ein Netzwerk von Websites und Talkshows gibt, das den New-York-Times-Kolumnisten Matt Bai von einer Nischenkultur sprechen lässt, einer Kultur, die "markant die düstere Vision politischer Extremisten propagiert". Demagogen wie der Radiomoderator Rush Limbaugh oder der Fernsehprediger Glenn Beck sehen Amerika von verkappten Marxisten bedroht, Obama eingeschlossen. Der habe als junger Sozialarbeiter in Chicago auf Mentoren gehört, die sich auf Karl Marx beriefen, argumentiert Beck. "Beweis erbracht! Mao im Weißen Haus!" Sarah Palin bedient sich routinemäßig des Worts "Tyrannei", wenn sie übers Kabinett herzieht. Nach der US-Verfassung aber haben freie Bürger das Recht, bewaffnete Milizen zu bilden, um Tyrannen davonzujagen. "Weiß Palin, was sie anrichten kann?", fragen aufgeschreckte Kommentatoren.

Ob sich der Attentäter Jared Lee Loughner von der giftigen Rhetorik anstacheln ließ, bleibt ein Thema für Spekulationen. In Zugzwang geraten, betont die Tea Party, dass Loughner auf eigene Faust handelte und nichts, aber auch gar nichts mit ihr zu tun habe.

Robert Mueller, Direktor der Bundespolizei FBI, soll in Tucson dem Verdacht nachgehen, dass der Mörder Kontakte zur rechtsextremen Szene pflegte. Die Ermittler gehen inzwischen nicht mehr davon aus, dass Loughner bei seiner Tat Hintermänner besaß. Ein zuvor verdächtigter Mann entpuppte sich als Taxifahrer.

Videos und Notizen, die das FBI in Loughners Wohnung fanden, lassen darauf schließen, dass dieser nicht spontan schoss, sondern nach sorgfältiger Planung. In einem Kuvert sammelte er krude, einzeilige Botschaften: "Ich plante voraus." "Meine Ermordung." Dazu der Name Gabrielle Giffords. 2007 hatte ihm die junge Abgeordnete schriftlich dafür gedankt, dass er eine ihrer Bürgersprechstunden besuchte. Neun Tage vor Weihnachten meldete sich der 22-Jährige im Internet zu Wort: "Meine letzten Gedanken – Jared Lee Loughner!" Es folgen die wirren Zeilen: "Ich kann der Regierung nicht trauen wegen der Ratifizierungen." Die Regierung betreibe Gehirnwäsche, indem sie die Grammatik kontrolliere.

Nachbarn bezeichneten ihn als Einzelgänger, Freunde gar als emotionalen Krüppel, der stark trank und Marihuana rauchte. Einmal sei er beinahe an einer Alkoholvergiftung gestorben, sagte ein Bekannter.

Die Mordwaffe, eine Glock, kaufte der 22-Jährige am 30. November im "Sportsman's Warehouse" in Tucson, wo sich Jäger und Fischer eindecken. Dass es ihm leicht fiel, an eine halbautomatische Pistole zu kommen, gießt einmal mehr Öl ins Feuer des Streits um strengere Waffengesetze. Es ist eine Debatte, wie sie die USA nach jedem Gewaltschock führt – und dann regelmäßig wieder einstellt.

(Rheinische Post)
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