Analyse Muslime gegen den Dschihad

Berlin · Sicherheitsbehörden sind alarmiert, weil sich immer mehr junge Muslime radikalisieren und in den heiligen Krieg ziehen. Was können islamische Gemeinden tun, um das zu stoppen? Und wie weit reicht ihre Verantwortung?

Das Bild ist unauslöschlich im Kollektivgedächtnis der Menschheit gespeichert: Wie die gekaperten Jets 2001 von fanatischen Islamisten in das New Yorker World Trade Center gesteuert werden, um tausendfachen Tod zu bringen. Und stets laufen im Hinterkopf die Verbindungen nach Deutschland ab: Dass Pilot Mohammed Atta in der Hamburger al-Quds-Moschee Mittäter und Unterstützer traf und dass das Gotteshaus 2010 geschlossen werden musste, weil Dschihadisten es nicht nur als symbolischen Ort unter dem Deckmantel religiöser Kulturarbeit immer noch zur Radikalisierung gewaltbereiter Gotteskrieger nutzten.

Diese Vorgänge liegen vom Alltag der Gläubigen in Deutschland gefühlte Lichtjahre entfernt. Doch letztlich protestieren diesen Freitag Muslime in vielen deutschen Städten. Auch gegen dieses durch "Nine Eleven" vermittelte Grundgefühl eines möglichen Zusammenhangs zwischen islamischem Glauben und islamistischem Terror, wie er durch die Gräueltaten des "Islamischen Staates" (IS) in Syrien und im Irak wieder wach geworden ist. "Muslime stehen auf gegen Hass und Unrecht", lautet das Motto. Nach den Worten von Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime, wollen die Islamverbände in Deutschland nicht mehr schweigen, "wenn der Islam gekidnappt wird von Terroristen und Verbrechern".

Das Problem, das die Menschen mit der Differenzierung zwischen islamistischen Terroristen und friedlichen islamischen Gläubigen haben, liegt eben darin, dass die Unterscheidung anhand eines simplen Schwarz-Weiß-Schemas nur bedingt funktioniert: Es ist klar, dass die brutalen Hinrichtungsorgien im Namen eines imaginären Kalifates nach historischem Vorbild und angeblich im Auftrag eines Islams reiner und ursprünglicher Lehre von den vielen Millionen Moslems auf der Welt glasklar verurteilt wird. Mehr noch: Die meisten Opfer, die in den IS-Propaganda-Videos hingerichtet werden, sind keine Juden oder Christen, sondern Muslime, die sich den islamistischen Terroristen in den Weg zu stellen versuchten. Für die extrem-sunnitischen Anhänger eines neuen islamischen Staates sind auch alle Muslime andersgearteter islamischer Strömungen "Kuffar", Ungläubige.

Diese Grenzlinie ist somit eindeutig auszumachen. Aber es gibt keinen islamischen Staat in Deutschland. Und trotzdem sind schon 400 radikalisierte junge Muslime, viele mit deutschem Pass ausgestattet oder hier als Deutsche der dritten oder vierten Migrantengeneration geboren, in den Dschihad (den "Heiligen Krieg") nach Syrien oder in den Irak gezogen. Rund 100 kehrten zurück, teils frustriert, teils noch radikalisierter und nun mit Waffen- und Sprengstoffwissen praktisch vertraut. Vor dem Hintergrund wiederholter Aufrufe, den Dschihad auch in die Städte Europas zu tragen, macht das die Situation brisant und gefährlich.

Fast alle zum Dschihad entschlossenen Islamisten entstammen der salafistischen Szene, die unter den islamistischen Gruppen in Deutschland das dynamischste Wachstum aufweist. Die erkannten islamistischen Terroristen in Deutschland waren nahezu vollständig zuvor als Salafisten wahrgenommen worden. Und doch tun sich die Sicherheitsbehörden schwer, den Nährboden auszutrocknen, da die meisten führenden Salafisten peinlich genau darauf achten, die Schwelle zur Straftat nicht zu übertreten. Und die Religionsfreiheit und ihre Ausübung hat in Deutschland ein hohes Gut.

Der Verfassungsschutz sieht kleinere Gruppierungen durchaus als Katalysatoren für dschihadistische Rekrutierungsbemühungen. Bei ihren Treffen in Gebetsräumen und Moscheevereinen stünden jedoch die Stärkung des Glaubens und die Abwehr säkularer Einflüsse im Vordergrund - eine schwer angreifbare Taktik. Auch der Versuch, direkte Verbindungen zwischen den betont gewaltfreien Organisationen in Deutschland und ähnlichen Verbänden im Nahen Osten mit eindeutigen Aufrufen zur Gewalt nachzuweisen, bleibt oft im bloßen Verdacht stecken.

Aus Sicht der islamischen Verbände kommt hinzu, dass die kriminellen Karrieren der Selbstradikalisierung ihren Anfang im Verborgenen nehmen und es sich in der Regel um junge Leute handele, die nicht Teil der Gemeinden seien. Sie würden in den Moscheen nicht gesehen, und wenn sie - indoktriniert durch Hasspredigten im Internet - kurz vor dem Umkippen in den Terrorismus stünden, lehnten sie die örtlichen Moscheen als Stätten eines "weichgespülten Islam" sogar vehement ab, berichtet Mazyek. Deshalb seien sie auch von den Gemeinden und ihrer Jugendarbeit nicht zu erreichen.

Zekeriya Altug von der Türkisch-Islamischen Union beschreibt die radikalisierten Jugendlichen als Muslime, die sich in einer "Videospiel-Ästhetik" von der Realität in den Gemeinden regelrecht abgekoppelt hätten. Die Ursachen sieht Seyfi Ögütlü, der Generalsekretär des Verbandes der Islamischen Kulturzentren, in einer Perspektivlosigkeit junger Muslime, die wegen Bildungsdefiziten in eine Orientierungslosigkeit abglitten und dann empfänglich würden - etwa für IS-Videos. Diese halten laut Verfassungsschutz einfachste Antworten für alle Fragen und klare Handlungsanweisungen für jedes Detail eines strenggläubigen Lebens im Sinne Allahs bereit.

Altug ärgert das, weil Islamisten mit ihren Videos und Zielbeschreibung eines islamischen Gottesstaates immer wieder das Bild vom Islam bestimmten. "Die Mehrheit der Muslime muss die Deutungshoheit über den Islam haben", lautet seine Forderung. Dass Islamisten den Dschihad nach Deutschland bringen könnten, habe auch in den muslimischen Gemeinden größte Furcht ausgelöst. Altug: "Wir sitzen in derselben U-Bahn."

(may-)
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