Analyse Minderheitsregierung - wäre das gut?

Pro und Kontra Noch immer ist unklar, wer die alte Bundesregierung ablösen wird. Ein Staatsrechtler und ein Politikwissenschaftler legen ihre Meinung über ein Deutschland dar, das von der Union ohne Mehrheit regiert wird.

Minderheitsregierung tolerieren oder dulden - klingt alles nicht gut. Alles keine Gewinnerwörter. Aber wenn es denn sein muss, kann man das verschmerzen. Aber muss es sein? Und ist es auch gut für unsere Demokratie? Ich bestreite dies.

Eine Minderheitsregierung ist instabil. Sie kennt keinen Koalitionsvertrag, muss sich Mehrheiten im Bundestag suchen. Sie kann an jeder Frage plötzlich zerbrechen. Warum nicht, fragen manche, das zieht doch eine willkommene Aufwertung des Parlamentes nach sich. Es muss immer neu gefragt werden, kann sich bei jedem Gesetz neu einbringen. Das ist eine Vorstellung aus der politischen Romantik. Denn eine Minderheitsregierung ist unberechenbar. Keiner weiß, wie lange sie hält, keiner kann vorhersagen, ob ein Gesetzgebungspaket durchkommt. Das wäre Politik von der Hand in den Mund, atemlos.

Das Schlimmste: Eine Minderheitsregierung bedeutet Wahlkampf, Sondierungsquerelen und politischen Stress immer und für alle - Bürger, Medien, Politiker, Verwaltungen (ganz schwierig!), Wirtschaft und Gesellschaft. Alles muss ständig neu verhandelt werden. Im Bundestag, aber auch mit dem Bundesrat und mit Brüssel, von internationalen Verpflichtungen ganz zu schweigen. Wie wäre die Regierung auf der Klimakonferenz aufgetreten? Ich halte diese Lösung für unverantwortlich.

Vordergründig nutzt eine Minderheitsregierung der Union: Merkel bleibt im Amt, die Ministerposten muss man nicht teilen. Und man kann versuchen, die Opposition vorzuführen. Mal lässt man den einen teilhaben, mal sucht man sich einen anderen Partner. Und wenn die Opposition darüber schließlich total zerstritten ist, stellt die Kanzlerin die Vertrauensfrage und lässt neu wählen. Nur: Kann sich die Kanzlerin daran messen lassen? Wird sie aufgerieben in ständigen Kompromissen? Kann sie sich in Europa noch als ruhige Kraft blicken lassen? Nein, sie weiß wohl selbst, dass ihr eine Minderheitsregierung nichts nutzen würde.

Und die Opposition? Könnte doch täglich frohlocken, Merkel hat keine Mehrheit, und wir dulden sie nur. Für FDP-Chef Christian Lindner ein Traum, für AfD und Linke ebenso. Sie würden nicht für Mehrheiten gebraucht, könnten aber durch Mitstimmen die Union in heikle Lagen bringen. Die Grünen böten sich hier und da an, ein Stückchen mitzuregieren.

Bleibt die SPD. Sie wäre der natürliche Tolerierungspartner. Ein bisschen mitregieren, damit Gewerkschaften und Wirtschaft zufrieden sind, ein bisschen opponieren, damit man keine große Koalition mittragen muss. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Ist das das neue Profil der Partei, die klare Kante? Das ist eine Illusion. Deshalb lautet für Union und SPD die Alternative: Neuwahlen oder große Koalition. Oder ein Viertes: Kooperation ohne Koalition. Das ist noch jenseits der Illusion. Das ist einfach Quatsch.

Schließlich sei eine Minderheitsregierung gut für die Demokratie, weil endlich unsere Volksvertretung wieder im Mittelpunkt stehe. Nein danke, instabiler, unberechenbarer Dauerstress ist kein demokratischer Wert.

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! - an diesen Ausspruch Wilhelms II. fühlt man sich angesichts der Appelle an das staatspolitische Verantwortungsbewusstsein ersterer erinnert, und auch ominöse Hinweise auf einen möglichen Gesetzgebungsnotstand wecken ungute Assoziationen. Unklare Mehrheitsverhältnisse, vorzeitige Neuwahlen, unsichere und wechselnde Mehrheiten sind demokratische Normalität - mit der umzugehen offenbar nach wie vor Schwierigkeiten bereitet.

Wie hier zu verfahren ist, dafür kann Verfassungsrecht allerdings kein eindeutiges Votum geben - es steckt vor allem den Rahmen ab, den auszufüllen zuallererst den politisch verantwortlich handelnden Organen obliegt. Gleichwohl sind dem Grundgesetz Direktiven zu entnehmen, die, wenn überhaupt, freilich nur in äußersten Grenzen justiziabel sind.

So ließe sich durchaus nach der Rolle des Bundespräsidenten fragen, der, in nur geringer zeitlicher Distanz zur Partei- und Tagespolitik, seine Verfassungspflicht zu parteipolitischer Neutralität nicht allzu geschmeidig handhaben sollte, etwa im Zuge (wenn auch informeller) programmatischer Anregungen für Koalitionsverhandlungen. Dass er sich im Rahmen seines Ermessens dann bei der Ausübung seines Vorschlagsrechts sowie seiner weiteren Befugnisse bei der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag vor allem an der Entstehung regierungsfähiger Mehrheiten orientieren wird, entspricht der Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Zielsetzung der Regierungsstabilität: die Bildung handlungsfähiger Regierungen. Dies kann jedoch nicht reibungsloses "Durchregieren" bedeuten. Die Demokratie des Grundgesetzes ist parlamentarische Demokratie - was etwa die Gegner direkter Demokratie bei anderer Gelegenheit nicht müde werden zu betonen. Große Koalitionen sollten daher nicht zum Regelfall werden, wenn der Bundestag darüber immer weniger als das zentrale Forum offener und transparenter politischer Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung wahrgenommen werden sollte. So könnte eine Minderheitsregierung durchaus einen Beitrag zur politischen Streitkultur und zur Revitalisierung der parlamentarischen Diskussion leisten und damit das freie Mandat und die parlamentarische Demokratie insgesamt stärken - gerade weil sie die Regierung nicht der mitunter lästigen Obliegenheit entheben würde, im Parlament für ihre Politik zu werben.

Nicht zuletzt auch Fragen der europäischen Integration, für die der Bundestag regelmäßig vom Bundesverfassungsgericht zum Jagen getragen werden musste, könnten so parlamentarisiert und demokratisiert werden. Dass eine Minderheitsregierung nicht notwendig an geschwächter Handlungsfähigkeit leiden müsste, belegen europäische Beispiele zur Genüge. Sie zu wagen, könnte auch bedeuten, mehr Demokratie zu wagen.

Fazit: Auch wenn jegliches verfassungsrechtliche Votum durch die Ereignisse überholt werden kann, wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht die Minderheitsregierung einer unter sanftem präsidialem Druck herbeigeführten großen Koalition vorzuziehen.

(RP)
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