Dramatische Stunden im Kanzleramt Merkels Wendemanöver

Während dramatischer Stunden im Kanzleramt fliegen die Fetzen: Die Kanzlerin brüllt den Vizekanzler an, droht mit dem Ende der Koalition – und fügt sich dann doch in Joachim Gaucks Präsidentschaft.

Während dramatischer Stunden im Kanzleramt fliegen die Fetzen: Die Kanzlerin brüllt den Vizekanzler an, droht mit dem Ende der Koalition — und fügt sich dann doch in Joachim Gaucks Präsidentschaft.

Berlin Als Angela Merkel am Sonntagmittag die Suche nach dem neuen Bundespräsidenten eröffnet, da kann sie sich sicherlich vieles vorstellen. Nur eines nicht: dass sie am Abend Joachim Gaucks Handynummer wählen und ihm die Präsidentschaft antragen würde. Denn eigentlich läuft die Aktion "Kanzlerin kürt Präsident" nach der Devise "Gauck verhindern". Dass sie mit ihren beiden bisherigen Präsidial-Personalien wenig Fortüne hatte, war durch die vorzeitigen Rücktritte der Herren Köhler und Wulff bereits hinlänglich dokumentiert. Die Schmach sollte durch die überwältigende Wahl des von ihr einmal Verhinderten nicht vollständig werden.

Schon viele nächtliche Schlachtfelder der Europa-Politik mit milliardenschweren Entscheidungen hat die verhandlungsgestählte Kanzlerin als Siegerin verlassen. Weil sie vorher immer genau weiß, was sie will und wann sie ihre Konferenzgegner womit über den Tisch ziehen kann. Und so war sie auch dieses Mal mit mehreren Jokern präpariert. Doch schon der erste und listigste erwies sich als Flop.

Mit dem von der SPD seinerzeit nominierten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, schien sie den idealen Gauck-Verhinderer gefunden zu haben. Sämtliche Beteiligte bestätigten: Bei einem Kandidaten Voßkuhle hätte die SPD nicht länger auf Gauck bestanden, wären die Grünen mit im Boot gewesen und auch die FDP. Alles perfekt. Nur eines hatte die Kanzlerin übersehen: ob Voßkuhle wirklich will. Und so musste sich Merkel bereits am Samstag den Korb abholen.

Im anderen Ärmel steckt nun noch die Karte Klaus Töpfer. Den hatte sie schon 2010 haben wollen, aber gegen eine selbstbewusst auftretende FDP nicht durchsetzen können. Im nochmaligen Anlauf sollte es ihr nun gelingen. Ihr schien Gauck indirekt zur Hilfe zu kommen, da er rechtzeitig signalisierte, nicht noch einmal als rot-grüner Minderheitskandidat zur Verfügung zu stehen. Wenn überhaupt, wollte er von Merkel gefragt werden. Und die will nicht. Auf keinen Fall.

Deshalb fühlt sich Merkel nach dem Eindruck von Teilnehmern noch um 14 Uhr auf der Siegerstraße, als sie mit der Personalie Töpfer als einer unter mehreren Spielkugeln jongliert. Mit dabei unter anderem der Ex-EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber. Auch die FDP legt noch einmal Ideen mit ins Glas, etwa den Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, den international angesehenen Wolfgang Ischinger. Merkels Plan: einen nach dem anderen rauskicken, bis zufällig nur noch Töpfer übrig bleibt. Die FDP scheint ja mit Ischinger beschäftigt.

Deshalb ahnt sie auch nichts Böses, als die FDP-Unterhändler wie verabredet um 15 Uhr die Verhandlungen für eine Telefonschaltkonferenz ihres Präsidiums verlassen. Merkel nutzt die Zeit, um ihrerseits mit Getreuen zu telefonieren. Um 15.43 Uhr verändert sich Merkels Gesichtsfarbe schlagartig. Auf ihrem Smartphone schlägt die Eilmeldung auf, dass sich das FDP-Präsidium soeben einstimmig für die Wahl von Gauck entschieden habe. Keine Vorwarnung. Ein Schuss wie aus dem Nichts.

Eisig ist kurz darauf der Empfang für FDP-Parteichef Philipp Rösler und FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle. Rösler stellt klar, dass es keine formelle Entscheidung sei, sondern nur ein Meinungsbild. Merkel winkt ihn zu sich und zieht sich mit ihm für ein Vier-Augen-Gespräch zurück. Das Gespräch artet aus — in Anbrüllerei. So werden auch andere Unterhändler durch die Tür hindurch Zeugen der unverhohlenen Drohung mit dem Koalitionsbruch: "Wollt ihr das?", schreit sie Rösler an. Und sie meint: dass sie als Kanzlerin die FDP-Minister aus der Regierung wirft.

Merkel testet die Standfestigkeit. Aber richtig. Sie rauscht mit den CDU-Unterhändlern davon, macht ebenfalls eine Telefonschalte und lässt das CDU-Präsidium einschwören auf Töpfer oder einen anderen, aber auf jeden Fall nicht Gauck. Die Zeichen stehen auf Dramatik pur. Als auch noch Daniel Bahr, Gesundheitsminister und NRW-FDP-Chef, mit seinem Appell auf Merkels Handy landet, sie möge doch bitte den Widerstand gegen Gauck aufgeben, schlägt die Stimmung endgültig um. "So hat das mit uns doch keinen Sinn mehr", lässt ein Unionspolitiker verlauten. Vor allem fühlen sich die Christdemokraten von den Liberalen unfair vorgeführt. Es gibt weitere Unterbrechungen, interne Beratungen.

Merkels Vertrauter, Unionsfraktionschef Volker Kauder, lange in vertraulicher Duz-Freundschaft mit Brüderle, lotet die Entschiedenheit der Liberalen unter vier Augen aus. Und muss an Merkel berichten: kein Bluff, die machen Ernst. Und nun erkennt die gewiefte Taktikerin, dass sie nur noch eine Wahl hat: entweder an Töpfer festhalten und gegen ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP in drei Wahlgängen dreimal verlieren, zudem mitten in der Euro-Krise auch noch das fatale Signal einer zerbrechenden Regierung auszusenden — oder die Flucht nach vorne anzutreten und sich an die Spitze der Alle-für-Gauck-Bewegung zu stellen.

Merkel entscheidet sich. Holt sich den Segen des Präsidiums für die Wende. Und wählt Gaucks Nummer.

(RP/jh-)
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