Berlin Merkels Hypothek

Berlin · Ob es einen Zusammenhang zwischen der massenhaften Ankunft von Flüchtlingen im Jahr 2015 und dem Anschlag von Berlin gibt, ist noch offen. Der Debatte darum muss sich die Bundeskanzlerin dennoch stellen.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) tritt sichtlich betroffen mit schwarzer Krawatte vor die Kameras. Er sagt mitfühlende Worte für die Angehörigen der Opfer. Doch er hat auch eine politische Botschaft: "Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu ausrichten."Nur wenig später erklärt Innenminister Thomas de Maizière (CDU), dass der Tag nach dem Anschlag für ihn nicht der richtige Zeitpunkt sei, um über Konsequenzen zu reden. Schon ist er wieder da: der Konflikt in der Union um die Flüchtlingspolitik und um die Obergrenze.

Nach diesem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt im Herzen Berlins hängt der Kanzlerin die Flüchtlingspolitik wie ein Mühlstein um den Hals. Es ist noch unklar, ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt. Gegen den festgenommenen Mann aus Pakistan, der vor einem Jahr nach Deutschland kam, liegen keine handfesten Beweise vor. Als plausibel gilt aber, dass der Anschlag einen islamistischen Terrorhintergrund hat.

In den sozialen Netzwerken laufen derweil bittere Vorwürfe gegen die Kanzlerin und ihre Flüchtlingspolitik. Der Vorwurf, die Opfer vom Breitscheidplatz seien "Merkels Tote", wie ihn AfD-NRW-Chef Marcus Pretzell bereits gut eine Stunde nach dem Anschlag auf Twitter verbreitete, sorgt wiederum für heftige Reaktionen. Es ist absehbar, dass dieser Anschlag den vorhandenen Graben in der Gesellschaft noch vertieft. AfD-Chefin Frauke Petry fordert, "dass unsere so unverantwortlich offen gehaltenen Grenzen endlich wieder kontrolliert werden". Dass schon im vergangenen Jahr wieder Grenzkontrollen eingeführt wurden und Flüchtlinge nicht mehr ohne Registrierung ins Land kommen, verschweigt sie. Auch andere Rechtspopulisten in Europa attackierten die Kanzlerin. Der Niederländer Geert Wilders twittert das Bild einer blutverschmierten Kanzlerin und wirft ihr vor, sie habe mit ihrer Politik der offenen Grenzen den "Asyltsunami und den Islamterror" hereingelassen.

Merkel weiß, dass sie der Debatte, ob und welchen Zusammenhang es zwischen ihrer Flüchtlingspolitik und dem Anschlag von Berlin gibt, nicht ausweichen kann. Sie thematisiert von sich aus, dass die grausame Tat auch von einem Flüchtling begangen worden sein kann. Als sie vormittags im Kanzleramt vor die Presse tritt, sagt sie, es wäre besonders "widerwärtig", wenn ein "Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat". Sie wirkt angegriffen von dem Terroranschlag.

Mit der Tat von Berlin ist für die Regierung eine Lage eingetreten, die schon seit Monaten befürchtet wurde. Der Innenminister warnte immer wieder vor einer "abstrakt hohen Gefahr". Bekannt war auch, dass die Islamisten christliche Weihnachtsmärkte als mögliches Anschlagsziel auf ihren Hass-Seiten bewerben. Und dass sich über die Flüchtlingsroute auch terrorbereite Islamisten nach Europa eingeschlichen haben, weiß man spätestens seit dem Attentat von Paris.

Für das Wahlkampfjahr 2017 sind der Anschlag von Berlin und die Gefahr weiterer Anschläge und Terrortaten eine schwere Hypothek. Der Terror vor der eigenen Haustür ruft ja nicht nur Rechtspopulisten auf den Plan, er verunsichert vor allem die breite Bevölkerung zutiefst. Wen trifft es als nächstes?

In unsicheren Zeiten wenden sich die Bürger oft den Regierenden zu, weil sie sich von Kontinuität in der Politik auch Sicherheit für ihr eigenes Leben versprechen. Wenn aber ausgerechnet die Führungsfigur für die Unsicherheit verantwortlich gemacht wird, kann sich diese Gesetzmäßigkeit schnell ins Gegenteil verkehren.

(qua)
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