Irritationen beim Truppenbesuch der Kanzlerin Merkel: Afghanistan-Abzug riskant

Die Bundeskanzlerin löst bei einem Truppenbesuch am Hindukusch Irritationen aus: Zuerst stellte sie den Abzugstermin infrage. Später betonte Merkel, sie wolle am Zeitplan bis Ende 2014 nach Möglichkeit festhalten.

Masar-i-Sharif Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern den deutschen Soldaten in Afghanistan überraschend einen Besuch abgestattet. Der Versöhnungsprozess mit den Aufständischen habe zwar Fortschritte gemacht, er sei aber noch nicht so weit, dass man sagen könne, "wir können heute hier abziehen", stellte Merkel nach ihrer Landung in Masar-i-Sharif im Norden des Landes fest. Sie fügte dann den Satz hinzu, der für größte Irritationen sorgte: "Und deshalb kann ich auch noch nicht sagen, ob wir das bis 2013/14 schaffen." Bis 2014 will die Nato alle Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen haben.

Regierungskreise bemühten sich sofort intensiv um ein Dementi: Damit habe die Bundeskanzlerin keineswegs den pünktlichen Abzug bezweifelt. Merkel selbst sagte später, die Bundesregierung halte ungeachtet aller Schwierigkeiten am geplanten Abzug bis Ende 2014 fest. "Wir sind jetzt schon in der Phase der Übergabe der Verantwortung", unterstrich die Regierungschefin.

"So wirkt Deutschland nicht als verlässlicher internationaler Partner", kritisierte Grünen-Verteidigungsexperte Omid Nouripour im Gespräch mit unserer Zeitung. Der SPD-Sicherheitspolitiker Rainer Arnold sah einen Zusammenhang zu abwartenden Äußerungen von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), die ebenfalls "nicht ganz eindeutig" gewesen seien. Alle Zweifler aus Deutschland machten sich aus seiner Sicht jedoch "nicht hinreichend klar, dass wir Deutschen das letztlich gar nicht entscheiden, sondern der Haupttruppensteller USA", betonte Arnold.

"Wir werden uns nur in diesem Tross bewegen können", sagte Arnold voraus. Deshalb sei es völlig abwegig, immer wieder für Verunsicherung zu sorgen. Wenn die Kanzlerin an besseren Voraussetzungen für einen Abzug mitwirken wolle, dann könne sie genug tun — etwa für eine solide Ausstattung der afghanischen Sicherheitskräfte sorgen. "Das werden wir mitfinanzieren müssen", betonte Arnold. Der Afghanistan-Beauftragte der FDP, Bijan Djir-Sarai, erinnerte daran, dass die Abzugs-Strategie gemeinsam mit den Verbündeten formuliert worden sei. Es bestehe derzeit "nicht die Notwendigkeit, diese Strategie infrage zu stellen", betonte Djir-Sarai.

Dagegen fühlte sich der Bundeswehr-Verband durch Merkels Äußerungen in seinen Zweifeln am Abzugstermin bestätigt. "Ich bin immer skeptisch gewesen", sagte Verbandschef Oberst Ulrich Kirsch. "Denn diejenigen, die heute sehr schnell bereit sind und sagen, raus aus Afghanistan, wären bei Menschenrechtsverletzungen die Ersten, die rufen würden, wieder rein nach Afghanistan", gab Kirsch zu bedenken.

Verteidigungsminister de Maizière verhandelte zugleich in der usbekischen Hauptstadt Taschkent über die Möglichkeit, das nördlich von Afghanistan gelegene asiatische Land noch stärker als bisher für den Truppenumschlag und damit vor allem als Abzugsweg zu nutzen.

Auch die Vereinigten Staaten fühlen vor, ob der von Deutschland genutzte Weg für größere Rückzugsbewegungen verwendet werden kann. Dem stehen allerdings tiefgreifende internationale Verstimmungen über Usbekistan und dessen Menschenrechtssituation im Weg.

Überschattet wurde der Besuch von einem Amoklauf eines US-Soldaten in der südafghanischen Provinz Kandahar. Er soll unter ungeklärten Umständen 16 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, in mehreren Privathäusern erschossen haben. Merkel telefonierte vom Bundeswehr-Lager aus mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und drückte ihm ihr Mitgefühl aus. Das afghanische Parlament erklärte in Kabul, nach der Koran-Verbrennung und dem Amoklauf verliere das Land die Geduld mit den ausländischen Truppen. Die Taliban schworen Rache. Der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) verwies auf eine veränderte Sicherheitslage, als er seinen parallelen Afghanistan-Besuch gestern abkürzte.

Auch Angela Merkel verzichtete auf weitere geplante Besuchsstationen. Die Regierung betonte jedoch, beides sei auf den starken Schneefall zurückzuführen.

(RP/jh-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort