Analyse May will einen Blankoscheck

London · Bei der Neuwahl am 8. Juni sollen die Briten der Premierministerin den Rücken für den Brexit stärken. Das Problem: Das Pro-EU-Lager hat keine politische Alternative. Und die Folgen des EU-Austritts sind offen.

An politischer Intelligenz mangelt es Theresa May ganz gewiss nicht: Geschickt hat die britische Premierministerin die Opposition mit ihrer überraschenden Ankündigung von Neuwahlen ausmanövriert. Selbst die in einem historischen Umfragetief steckende und intern völlig zerstrittene Labour-Partei sah sich gestern im Parlament genötigt, der vorzeitigen Abstimmung und damit ihrem programmierten Untergang zuzustimmen. Man wird abwarten müssen, ob Mays Kalkül aufgeht und die Konservativen ihre derzeit nur knappe Parlamentsmehrheit ausbauen können. Aber angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts stehen die Chancen sehr gut.

Wahltaktisch hat May alles richtig gemacht. Ob sie damit auch der Einheit des Landes dient, wie sie behauptet, steht dagegen zu bezweifeln. Das Land ist in der Frage des EU-Austritts weiterhin zutiefst gespalten, und ein siebenwöchiger, mit harten Bandagen geführter Wahlkampf scheint nicht unbedingt geeignet, die Nation zu versöhnen. Zwar hat die Premierministerin die von ihr provozierte Neuwahl zu einem zweiten Referendum über den Brexit hochgejubelt, aber selbst deutliche Zugewinne ihrer Tories ließen sich nicht so einfach als klares Pro-Brexit-Mandat interpretieren. Vor allem, weil den britischen Wählern schlicht eine politische Alternative fehlt: Die Gegner des EU-Austritts, die immerhin rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, haben keine Partei, die ihre Interessen vertritt und die halbwegs glaubhafte Siegchancen hat. Labour-Chef Jeremy Corbyn eiert in Sachen Brexit weiter herum und hat offenbar beschlossen, ausgerechnet in dieser Schicksalsfrage jegliche Opposition einzustellen. Krampfhaft versuchte Corbyn gestern im Unterhaus, die soziale Gerechtigkeit als Wahlkampfthema in den Vordergrund zu schieben - ein zum Scheitern verurteilter Versuch, der alles überragenden Brexit-Frage auszuweichen.

Die einzige Partei, die sich klar gegen den EU-Austritt positioniert, sind die Liberaldemokraten. Deren Chef Tim Farron machte sich zwar bereits Hoffnung auf etliche zusätzliche Sitze im Parlament, aber seine Mini-Partei gilt bis heute vielen Wählern als vernachlässigbare Größe und dümpelte in den Umfragen zuletzt bei rund zehn Prozent Zustimmung. Mag sein, dass die Liberaldemokraten einen Achtungserfolg erringen; Labour in der Oppositionsrolle ersetzen können sie nicht.

Auch die schottische SNP, deren Abgeordnete sich bei der Abstimmung über die vorgezogene Parlamentswahl gestern der Stimme enthielten, ist in einer unkomfortablen Situation. Zwar nannte die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon den Neuwahl-Coup eine "gewaltige politische Fehlkalkulation", weil jetzt die Schotten die Gelegenheit hätten, gegen einen harten EU-Austritt zu stimmen. Doch die SNP hatte schon bei der letzten Parlamentswahl einen historischen Sieg eingefahren und in Schottland 56 von 59 Sitzen geholt. Dass sich dieses Rekordergebnis am 8. Juni noch einmal übertreffen lässt, glaubt kaum jemand - Brexit hin oder her.

May wolle das Pro-EU-Lager mit der Neuwahl politisch enteignen, wetterte der "Guardian" und sprach von einem "Staatsstreich". Richtig ist, dass May von den Wählern einen Blankoscheck verlangt. Denn bisher weiß niemand, was die Abkehr des Vereinigten Königreichs von der EU am Ende konkret bedeuten wird. Und das wird am 8. Juni, dem Tag der Parlamentswahl, nicht anders sein. In Wirklichkeit geht es ja längst nicht mehr um eine Abkehr vom Brexit, sondern nur noch um seine möglichen Folgen.

Zwar kann May mit Recht darauf verweisen, dass die von einigen Brexit-Gegnern prophezeiten Horrorszenarien zunächst nicht eingetreten sind. Im Gegenteil: Das um rund 15 Prozent abgewertete Pfund beflügelt die Exportwirtschaft und schafft Jobs. Andererseits zieht die Inflation zunehmend an und hat das Leben für die Briten bereits spürbar teurer gemacht. Immer mehr Unternehmen kündigen an, auf den Kontinent abzuwandern, um sich den uneingeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten. Und in London musste man einsehen, dass sich die übrigen EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen wohl doch nicht so leicht auseinanderdividieren lassen werden, wie manche gehofft hatten.

Theresa May wird ihren Landsleuten wohl bald unangenehme Nachrichten aus Brüssel verkünden müssen. Unmut kann sie mit einer breiten Mehrheit zwar aussitzen. Aber das gefährliche Gefühl der politischen Ohnmacht wird wachsen.

(RP)
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