Martin Schulz – streitlustiger Europäer

"Ich bin eine notorische Rampensau", sagt der SPD-Politiker aus Würselen in seiner rheinisch-deftigen Art im kleinen Kreis über sich selbst. Seit gestern muss der 56-Jährige seine scharfe Zunge etwas zügeln. Denn er steht nun an der Spitze des Europaparlaments – ein Amt, das Moderation verlangt.

Strassburg Selbst im Moment des Sieges verlässt Martin Schulz sein Sinn für Symbolik nicht: Kaum hat ihm Noch-Präsident Jerzy Buzek gratuliert, räumt der Pole den Chefsessel im Plenarsaal des Straßburger Europaparlaments und will das Podium allein verlassen. Doch der Sozialdemokrat Schulz geleitet den konservativen Amtsvorgänger demonstrativ zur Ehren-Sitzreihe der Ex-Präsidenten im Plenum – es ist mehr als eine Geste des Anstands. Denn nicht nur Buzek verstand Schulz' Ankündigung, mehr als ein Grüß-August sein zu wollen, als Kritik an seiner Amtsführung.

Schulz sei zu konfliktfreudig für das konsensorientierte Repräsentations-Amt, sagen die Skeptiker in der EU-Volksvertretung. Diese Sorge drückte sich gestern auch im Wahlergebnis aus: Von 699 anwesenden Parlamentariern stimmten 387 für Schulz, also gut 55 Prozent. Damit erreichte der Deutsche zwar trotz zweier Gegenkandidaten im ersten Wahlgang die erforderliche absolute Mehrheit. "Ein Traumstart ist das nicht", hieß es aber danach auf den Fluren.

Die Wahl des SPD-Politikers, der seit 1994 Europa-Abgeordneter ist, galt als sicher, weil sich die beiden größten Fraktionen innerhalb der fünfjährigen Legislaturperiode traditionell in der Amtsführung abwechseln und sich vorab auf ihn geeinigt hatten. Schulz selbst sprach von einem "ehrlichen Ergebnis". Schließlich habe er in seinen sieben Jahren als streitlustiger Fraktions-Chef der EU-Sozialdemokraten vielen auf die Füße getreten.

Letzteres will er auch als Europas oberster Volksvertreter weiter tun. Mit einer Einschränkung: "Wenn es krachen muss, dann muss es jetzt halt in Würde krachen." Der SPD-Mann weiß, dass er das Amt in schwieriger Zeit übernimmt. "Zum ersten Mal seit ihrer Gründung wird ein Scheitern der Europäischen Union zum realistischen Szenario", warnte er in seiner Antrittsrede.

Die Menschen wollten kein System, in dem anonyme Rating-Agenturen mächtiger seien als demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen, sagte er in Anspielung auf fragwürdige Abwertungen von Euro-Staaten. Dem müsse die Politik ein klares Nein entgegensetzen. Schulz will das verlorengegangene Vertrauen der Bürger in den europäischen Einigungsprozess vor allem durch mehr Demokratie zurückgewinnen: Europa leide unter "Vergipfelung". "Wer glaubt, man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen, dem sage ich hier und heute den Kampf an", sagte Schulz. Kämpfer statt Konsens-Maschine sein, so lautet sein Credo auch als Europas oberster Volksvertreter. "Wir müssen den Mut aufbringen, die offene Konfrontation mit Merkel und Sarkozy zu suchen."

Formal ist das Europaparlament seit dem Lissabon-Vertrag bei der Gesetzgebung zwar so mächtig wie nie zuvor. Doch die Chefs reißen in Zeiten der Euro-Krise trotzdem immer mehr Entscheidungen an sich und spielen Kommission und Abgeordnete gnadenlos an die Wand.

Zu einem ersten Schlagabtausch mit den Staats- und Regierungschefs dürfte es für den neuen Präsidenten beim Gipfeltreffen Ende Januar kommen. Wenn die EU-Lenker in Brüssel den "Fiskalpakt" beschließen (die neue wirtschaftspolitische Koordinierung der Euro-Länder), will Schulz mit am Tisch sitzen. Bisher darf der Chef des Europarlaments zu Beginn zwar eine staatstragende Rede halten. Doch dann muss er vor die Tür. Schulz will dies nicht akzeptieren – und es notfalls auf einen Rausschmiss ankommen lassen.

Schon einmal hat sich Konfrontation als Katalysator für seine Karriere erwiesen. 2003 griff er den neuen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi im Plenum wegen Verstößen gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit scharf an. Berlusconi war so aufgebracht, dass er Schulz die Rolle des Aufsehers in einem KZ-Film empfahl. Der Eklat rückte den bis dato nur Insidern bekannten Europa-Abgeordneten aus der Provinz auf einen Schlag ins europäische Rampenlicht. Berlusconi musste sich sogar beim damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder entschuldigen. Schulz' Fraktionsgenossen wählten ihn wenig später zu ihrem Vorsitzenden.

Nun ist er der ranghöchste Sozialdemokrat an der Spitze einer internationalen Organisation – ein Traumjob für den leidenschaftlichen Europäer, dessen Heimat Würselen 1944 in Schutt und Asche gebombt wurde. In der Kleinstadt zwischen dem Autobahnkreuz Aachen und dem Dreiländereck lebt der Vater zweier Kinder heute noch mit Ehefrau Inge, einer Landschaftsarchitektin. Mit 19 trat er in die örtliche SPD ein, mit 31 wurde er Bürgermeister Würselens. Seine Vorliebe für Außenpolitik brachte ihm schon früh den Spitznamen "Kissinger von Würselen" ein.

(RP)
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