Wohin wollen Sie Europa steuern?

Am 25. Mai ist Europawahl. Der EU-Parlamentspräsident von der SPD, Martin Schulz, und der CDU-Spitzenkandidat, David McAllister, sprechen über die großen Streitfragen.

Viele europäische Bürger fühlen sich von der EU bevormundet. Sie wollen nicht mehr, sondern weniger Europa. Muss die Integration in Teilen zurückgedreht werden?

Schulz Für die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten brauchen wir eine Änderung der EU-Verträge — und dafür wird es in absehbarer Zeit keine Mehrheiten geben. Nötig ist aber ein Sinnes- und Mentalitätswandel. In der Kommission muss man sich nicht fragen, wo noch etwas reguliert werden kann, sondern wo wir uns zurückhalten und welche Dinge wir getrost anderen Ebenen überlassen können, weil sie es besser können, oder ob es überhaupt Regulierungsbedarf gibt. Klar ist: Die EU muss sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dazu gehören etwa Handel, Klimawandel, Einwanderung oder Währungspolitik. Nur so kann Europa das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen.

Können Sie sich vorstellen, die Freizügigkeit einzuschränken?

Schulz Der freie Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen in der EU ist eine Errungenschaft, die nicht zur Debatte steht und von der wir alle profitieren. Nach bestehenden EU-Regeln sind allerdings vorübergehende Personen-Kontrollen an den Grenzen in bestimmten Situationen möglich. Die EU verbietet auch keinem Land, beispielsweise den Empfang von Sozialleistungen an bestimmte objektive Kriterien zu knüpfen. Diese Instrumente reichen aus. Es darf aber nicht sein, dass jeder, der Probleme mit der Freizügigkeit benennt, als Anti-Europäer angeprangert wird. Wenn etwa in der Stadt Duisburg bestimmte Stadtteile mit Einwanderern überfordert sind, muss dort geholfen werden — etwa mit Geld oder einer besseren Verteilung der Migranten. Wenn EU-Politiker diese Schwierigkeiten weiter ignorieren, führt das nur dazu, dass die Idee der Freizügigkeit an sich in Gefahr gerät.

Hat Deutschland genug dafür getan, dass Europa die Krise überwindet?

Schulz Deutschland bürgt für den größten Teil der Rettungskredite. Die Deutschen verhalten sich solidarisch — gerade deshalb müssen wir uns fragen, warum wir trotzdem so unbeliebt sind in Europa.

Im Vertrag der großen Koalition sind viele Vorhaben zu Europa enthalten. Wo sind denn jetzt noch die Unterschiede zwischen Union und SPD im Europa-Wahlkampf?

Schulz Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir getrennt in die Europawahl ziehen. Also hoffe ich auf fairen Wettbewerb.

Nennen Sie drei praktische Gründe, warum sich die Bürger mehr für Europa interessieren sollen.

Schulz Sie wollen kein Gammelfleisch auf ihrem Tisch? Dann müssen Sie dafür sorgen, dass wir in Europa für einheitliche Standards sorgen. Oder Sie wollen sicheres Kinderspielzeug? Auch dann brauchen Sie Europa. Und schließlich wollen Sie sicher nicht, dass Sie mit Ihren Steuergroschen für die Spekulationen von Banken oder Investmentfonds aufkommen müssen, die aber gleichzeitig ihre Steuern nicht da bezahlen, wo sie ihr Geld verdienen. Nur Europa kann dafür sorgen, dass das Land des Profits auch das Land der Besteuerung wird.

Die US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland hat das Krisenmanagement der Europäer in der Ukraine gerade mit "Scheiß auf die EU" abqualifiziert. Was muss geschehen, damit Europa außenpolitisch endlich ernst genommen wird?

Schulz Die EU hat es leider noch nicht geschafft, ihre starke Stellung als Handelsmacht mit politischen Zielen zu verbinden. Dabei müssten wir unsere europäischen Werte eigentlich entschieden verteidigen, denn diese werden in der globalisierten Welt angegriffen. Warum zum Beispiel unterbinden wir in Zukunft nicht, dass unter Dumpingbedingungen hergestellte Textilien in der EU verkauft werden dürfen? Das würde die Ausbeutung der Näherinnen in den Herkunftsländern verhindern, aber auch Arbeitsplätze bei uns schützen. Vor allem aber müssen wir uns endlich entscheiden, ob wir als EU im 21. Jahrhundert in der Welt mitgestalten wollen oder ob wir die Außenpolitik weiter den Nationalstaaten überlassen, die aber allein nicht das nötige Gewicht dafür auf die Waage bringen gegenüber den Großmächten. Die kleinen EU-Staaten haben das übrigens längst verstanden. Die Widerstände gegen eine gemeinsame europäische Außenpolitik kommen vor allem aus Paris, London, Berlin und zunehmend auch aus Warschau.

ANJA INGENRIETH FASSTE DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN.

Viele europäische Bürger fühlen sich von der EU bevormundet. Sie wollen nicht mehr, sondern weniger Europa. Muss die Integration in Teilen zurückgedreht werden?

McAllister Die Europäische Union wird sich in den nächsten Jahren damit beschäftigen, wie die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Ebenen europäisch, national, regional oder lokal neu austariert werden könnten. Die britische Regierung will einen Katalog vorlegen, wo Zuständigkeiten neu verhandelt werden könnten. Wir sind als CDU grundsätzlich offen für Vorschläge, sie sollten jedoch praktikabel und durchsetzbar sein. Ich glaube, es geht in der Debatte auch weniger um konkrete Zuständigkeitsfragen, sondern darum, dass die Kommission bestehende Kompetenzen überschreitet oder falsch anwendet.

Können Sie sich vorstellen, die Freizügigkeit einzuschränken?

McAllister Die Freizügigkeit ist eine der Grundlagen des Vertrags über die Europäische Union und leistet einen erheblichen Beitrag zu unserem wirtschaftlichen Wohlstand. Es geht jedoch nicht, dass die Zuwanderung darauf ausgerichtet ist, direkt unsere Sozialsysteme auszunutzen. Das ist klar Sache der Mitgliedsländer. Der deutsche Gesetzgeber, aber auch die Länder und Kommunen müssen prüfen, wie sie den Missbrauch wirksam bekämpfen können.

Hat Deutschland genug dafür getan, dass Europa die Krise überwindet?

McAllister Die Krise ist unter Kontrolle, aber noch längst nicht überwunden. Jetzt gilt es, überall in Europa Kurs zu halten. Es ist ein politischer Dreiklang erforderlich — weitere strukturelle Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit, eine Politik der nachhaltigen Konsolidierung der nationalen Haushalte mit Zukunftsinvestitionen in Wachstum und Beschäftigung sowie eine effektive Bankenaufsicht und Regulierung der Finanzmärkte. Deutschland profitiert als exportstarkes Land vom Europäischen Binnenmarkt und von der Eurozone. Denken Sie nur an die Arbeitsplätze im Export oder den Wegfall von Wechselkursrisiken. Deutschland kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es Europa gut geht. Deutschland gibt Unterstützung und ist weiterhin dazu bereit, sei es durch Hilfskredite oder technische Hilfen. Es kann aber bei den bedürftigen Staaten die Bereitschaft zu strukturellen Reformen und Konsolidierung erwarten. Solidarität und Solidität gehören zusammen.

Im Vertrag der großen Koalition sind viele Vorhaben zu Europa enthalten. Wo sind denn jetzt noch die Unterschiede zwischen Union und SPD im Europa-Wahlkampf?

McAllister Wir haben Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch handfeste Unterschiede zwischen uns, der Europäischen Volkspartei, und den Sozialisten. Wir sind beispielsweise anders als die Sozialisten gegen Eurobonds und Vergemeinschaftung von Schulden, wir können uns vorerst keine weiteren Beitritte zur EU vorstellen und plädieren für eine Phase der Konsolidierung, und schließlich wenden wir uns gegen einen Brüsseler Zentralismus.

Nennen Sie drei praktische Gründe, warum sich die Bürger mehr für Europa interessieren sollen.

McAllister Erstens: Das Wichtigste an der Europäischen Union ist die Tatsache, dass sie seit vielen Jahrzehnten Frieden auf dem Kontinent garantiert. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denken Sie nur an den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruchs vor 100 Jahren wir gedenken. Ohne Europa wäre auch die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Zweitens: Europa ist eine weltweit einzigartige Wertegemeinschaft. Nur ein vereintes Europa hat eine weltweit wahrnehmbare Stimme. Und es sichert uns Wohlstand und soziale Sicherheit. Nicht zuletzt ganz praktisch: Freies Reisen ohne Währungsumtausch, freie Arbeitsplatzsuche in allen Mitgliedstaaten, lernen und studieren in anderen europäischen Ländern — ohne die EU wäre all das nicht mehr selbstverständlich.

Die US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland hat das Krisenmanagement der Europäer in der Ukraine gerade mit "Scheiß auf die EU" abqualifiziert. Was muss geschehen, damit Europa außenpolitisch endlich ernst genommen wird?

McAllister Die transatlantische Gemeinschaft der EU mit den USA ist ein Grundpfeiler der europäischen Außenpolitik. Die ist stärker als eine solche Bemerkung.

MARTIN KESSLER FASSTE DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN.

(RP)
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