Libyen vor ungewisser Zukunft

Das Gaddafi-Regime steht nach fast 42 Jahren vor dem Ende. Politiker zeigen sich weltweit erleichtert, groß ist der Jubel im nordafrikanischen und arabischen Raum. Doch ist der drohende Zerfall des tief zerstrittenen Staates aufzuhalten? Welche Rolle spielt das Erdöl? Eine Bestandsaufnahme.

Ist der weltweite Jubel verfrüht?

Mit Blick auf das Ende des Gaddafi-Regimes offensichtlich nicht. Doch damit sind die großen Probleme des Landes nicht gelöst, die den Aufstand zu einem Flächenbrand gemacht haben: Zehntausende zornige junge Männer sehen für sich keine Zukunftsperspektive – unter anderem, weil hohe Geburtenraten die Bevölkerung vergrößern. Seit 1975 ist sie von damals 2,5 Millionen auf heute 6,3 Millionen Menschen gewachsen, jeder dritte Libyer ist unter 14 Jahre alt. Die Lebensmittelpreise explodieren, es gibt viel zu wenig Arbeitsplätze. Und die alte Machtelite wird teilweise nur untergetaucht sein und ebenso auf ihre Chance lauern wie islamistische Scharfmacher.

Warum kippte die Lage so plötzlich zugunsten der Rebellen?

Die 7500 Nato-Luftangriffe haben die Gaddafi-treuen Streitkräfte offenbar erfolgreich zermürbt, weil größere Truppenverschiebungen nicht mehr möglich waren und vermutlich auch die Kommunikation lahmgelegt worden ist. Über wahrscheinliche Einsätze geheimer Spezialkräfte unter anderem der Briten und Franzosen am Boden gibt es naturgemäß keine Informationen. Sie werden aber die Rebellen militärisch beraten haben. Der Luft- und der Seeweg waren durch die Nato komplett abgeriegelt. Zuletzt hatten die Gaddafi-Gegner alle Ölraffinereien des Landes eingenommen, so dass der Hauptstadt Tripolis auch das Benzin ausging.

Ist nach dem Sturz Gaddafis das Land schnell zu befrieden oder zerfällt es?

Durch Libyen gehen zahlreiche unsichtbare Risse. Die Stämme sind sehr einflussreich, aber zerstritten. Viele Araber verachten die schwarzen Nordafrikaner im Süden Libyens. Die Geistlichkeit des islamischen Landes besteht aus modernen, konservativen und radikalen Religionsführern, letztere mit gefährlichen Kontakten zum internationalen Terrorismus. Der Nationale Übergangsrat in Bengasi hat sich zwar durchgesetzt. Trotzdem könnte Libyen sogar in drei Teile zerfallen: Tripolitanien (wo Gaddafi den größten Rückhalt hatte), die Cyrenaika um Bengasi und das schwarzafrikanische Fessan.

Wer kann Muammar al Gaddafi an der Spitze des Staates ersetzen?

Dies sollte durch freie Wahlen entschieden werden. Zurzeit ist der Übergangsrat international der Ansprechpartner. Genau betrachtet muss übrigens Gaddafi gar nicht ersetzt werden. Denn der "revolutionäre Führer" hatte offiziell gar kein Amt inne.

Was geschieht mit dem Diktator?

Das wird sich vermutlich in den nächsten Tagen entscheiden. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle hat gestern gefordert, ihn vor Gericht zu stellen. Die Libyer müssten in diesem Fall selbst entscheiden, ob dies wie bei Ägyptens Ex-Präsidenten Hosni Mubarak im eigenen Land geschieht oder ob Gaddafi an den internationalen Gerichtshof ausgeliefert wird.

Lässt sich der Machtwechsel in Libyen mit der Situation in Ägypten oder Tunesien vergleichen?

Die Unzufriedenheit der einfachen Bürger ist in allen Ländern des Maghreb groß, auch das zu krasse soziale Gefälle: In der Hauptstadt Tripolis gibt es zum Beispiel auffallend viele Reiche, die Provinz ist dagegen sehr arm.

Was muss die internationale Gemeinschaft jetzt vorrangig tun?

Das Land braucht schnell breite Unterstützung gegen das allgemeine wirtschaftliche und soziale Missmanagement. Es geht vor allem um Fachwissen, aber auch um Geld. Wichtig ist zudem die Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen, weil sonst die alten Seilschaften nach ägyptischem Muster wieder ans Ruder drängen. Libyen hat keine Staatsstrukturen nach westlichem Muster, Verwaltung und Justiz sind bloße Instrumente zum Erhalt des Machtapparats.

Wie groß sind die Kriegsschäden?

Das wird erst nach und nach genau zu ermitteln sein. Gaddafi wird sein Vermögen, das auf 80 bis 150 Milliarden Euro geschätzt wird, wohl nicht mehr beiseiteschaffen können. Das beschlagnahmte Geld (allein in Deutschland sind 7,2 Milliarden Euro eingefroren) sollte für den Wiederaufbau schnell freigegeben werden. Auch direkte humanitäre Hilfe ist nötig, unter anderem bei einem stillen Drama im Süden Tunesiens, wohin sich Zehntausende Libyer geflüchtet haben. Sie können zurzeit nicht zurück, weil ihre Städte in den Nafusah-Bergen im Westen zerstört worden sind.

Welche Auswirkungen hat die Revolution auf die deutsche Wirtschaft?

Bislang hat Libyen für die deutsche Wirtschaft kaum eine Rolle gespielt: 0,1 Prozent der deutschen Exporte gingen nach Libyen, umgekehrt bezieht Deutschland 0,4 Prozent seiner Importe aus dem Land. Am wichtigsten ist Libyen als Öl-Lieferant: Wir beziehen 7,8 Prozent unseres Rohöls aus dem nordafrikanischen Staat. Das ist genug, um die Ölpreise zu beeinflussen, aber zu wenig, um die Versorgung grundsätzlich zu gefährden. Libyen liegt in der Liste der weltgrößten Ölproduzenten auf dem 17. Platz.

Wann hat sich die libysche Ölproduktion wieder erholt?

Bislang produzierte Libyen rund 1,6 Millionen Barrel Öl pro Tag, inzwischen sind es weniger als 100 000. Die libysche Staatsfirma National Oil kontrolliert 50 Prozent der Produktion. Der wichtigste ausländische Öl-Förderer in Libyen ist die italienische Eni. In den vergangenen Wochen meldeten die Rebellen erhebliche Schäden an der Öl-Infrastruktur. Einer Umfrage unter 20 Experten zufolge wird es bis zu einem Jahr dauern, um die libysche Produktion wieder auf eine Million Barrel täglich hochzufahren.

Welche Rolle spielt Deutschland beim Wiederaufbau?

Dies wird eher ein "Sollen" als ein "Wollen" sein. Angesichts der unberechenbaren politischen Zukunft des Landes – es kann ja auch alles noch viel schlimmer werden – sind Rechtssicherheit und ein diskriminierungsfreier Handel als wichtigste Investitionsvoraussetzungen noch lange nicht in Sicht. Außenminister Westerwelle wünscht sich von der deutschen Wirtschaft "Unterstützung beim Aufbau einer unabhängigen Medienlandschaft in Libyen". Unternehmen wie Wintershall, die an der libyschen Ölförderung beteiligt waren, dürften noch am ehesten ein Interesse an einem neuerlichen Engagement in dem Land haben. Allerdings ist unklar, ob die unter Gaddafi geschlossenen Verträge noch eine Zukunft haben.

Bietet Libyen langfristig ökonomische Chancen?

Ja. Das größte Potenzial des Landes besteht in der im Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten relativ guten Bildungslandschaft: Es besteht Schulpflicht vom 6. bis zum 15. Lebensjahr, der Schulbesuch ist kostenlos. Allerdings ist die libysche Wirtschaft bis heute stark geprägt von Kommandowirtschaft mit Importverboten, Preiskontrollen und staatlich kontrollierter Verteilung. Trotz Reformversuchen ist das Land zudem noch sehr einseitig auf die Ölwirtschaft ausgerichtet, die 70 Prozent der libyschen Wirtschaftsleistung ausmacht. Die langfristigen Chancen für die deutsch-libyschen Handelsbeziehungen werden also entscheidend davon abhängen, ob die künftige Regierung sich staatswirtschaftlich-restriktiv oder marktwirtschaftlich-liberal verhält.

Bekommt Libyen jetzt mehr deutsche Entwicklungshilfe?

Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) will nach einem Machtwechsel keine zusätzlichen Hilfen nach Libyen fließen lassen. Es sei kein klassisches Entwicklungsland, da es über "erhebliches Potenzial" verfüge, sagte Niebel. Allerdings gibt es bereits mehrere Hilfsfonds für Nordafrika. Der versprochene 100-Millionen-Euro-Kredit, den Deutschland dem nationalen Übergangsrat zur Verfügung stellt, wurde gestern noch einmal bestätigt. Abgesichert ist er durch Gaddafis Milliarden auf deutschen Konten, die die Bundesregierung eingefroren hat.

(RP)
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