Umgang mit Sterbenden Der Wert des Todes
Analyse | Düsseldorf · In vielen hochentwickelten Ländern gilt der Tod als das Gegenteil von Leben und als ein Versagen der Medizin. Dabei komme dem Sterben ein eigener Wert zu, schreiben Experten in einer Kommission des Fachmagazins Lancet. Auch aus anderen Gründen fordern sie ein Umdenken.
Der Tod gehört mehr denn je zum Alltag, seit die Pandemie ausgebrochen ist, und in den Nachrichten nahezu täglich die Zahl der Todesfälle „an und mit Corona“ verlesen werden. Doch natürlich ist das unkonkret. Sterbende Menschen treten nicht in Erscheinung. Der Tod bleibt auch in Zeiten der Pandemie verborgen. Das Sterben in hochentwickelten Industriestaaten geschieht oft im Krankenhaus oder in Pflegeeinrichtungen – und bleibt für viele eine Abstraktion, ein Balken in der Statistik.
Das hat Auswirkungen auf das Verhältnis zum Tod. Teil des Lebens ist er für viele Menschen nicht mehr, eher das Gegenteil von Leben und Gesundheit, ein finales Versagen der hochentwickelten Medizin. Etwas, das nicht mehr vermieden werden konnte – trotz aller Bemühungen. In Ländern mit hohen Einkommen fließen immerhin acht bis elf Prozent der jährlichen Gesundheitsausgaben in die Versorgung jenes einen Prozents von Menschen, die in diesem Jahr sterben werden. So ist es in einem Papier zu lesen, das die renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht hat. Das Magazin setzt eigene Kommissionen hochrangiger Wissenschaftler ein, um Themenfelder zu bearbeiten, die es für die globale Medizin der nächsten Jahrzehnte als besonders bedeutsam einschätzt. Eine solche Kommission hat sich in der Coronazeit mit dem „Wert des Todes“ beschäftigt und dabei eine globale Perspektive eingenommen. Denn gestorben wird auf der Welt sehr unterschiedlich: In Industrienationen werden große Ressourcen für lebensverlängernde Maßnahmen eingesetzt, was eine Errungenschaft ist, ein Zeichen von Fortschritt, wenn es kranken Menschen dient. Doch im Rest der Welt sterben Leute oft jung und an Lappalien. So gehört der Tod in manchen Regionen der Erde zum täglichen Erleben, während hierzulande Menschen oft 40 Jahre und älter werden, ohne je einen toten Menschen gesehen zu haben.
Das hat Folgen für den Umgang mit dem Tod – und mit Sterbenden. In hochentwickelten Leistungsgesellschaften gibt es wenig Raum für das Schwächerwerden von Menschen. Einsamkeit und die Angst, anderen zur Last zu fallen, spielen eine große Rolle. Wahrscheinlich hat es auch damit zu tun, dass in solchen Gesellschaften der Wunsch, den eigenen Todeszeitpunkt selbst bestimmen zu können, immer lauter wird. Wer ein Leben lang gefordert ist, Eigenverantwortung zu übernehmen, für seinen Werdegang, für sein Fortkommen, für seine Gesundheit, sein Aussehen, gar sein Glück, der will auch beschließen, wann es genug sein soll. In individualistisch geprägten Kulturen scheint die Vorstellung, von anderen abhängig zu werden, für viele kaum noch erträglich.
„Alle Menschen leben in Beziehungen, jeder ist von Geburt an auf andere angewiesen, dass das auch am Lebensende so ist, ist nichts Schlimmes“, sagt dagegen Benno Bolze, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes. Die aktuellen Debatten drehten sich zu einseitig um das Thema Selbstbestimmung. Dass eine funktionierende Gesellschaft immer eine sorgende Gemeinschaft ist, dass es gar nicht anders gehe, als dass Menschen sich umeinander sorgen und füreinander da sind, kommt Bolze oft zu kurz. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid vor zwei Jahren, in dem das Recht auf Selbstbestimmung auch am Lebensende betont wird, müsse es nun zum Beispiel nicht nur ein Gesetz geben, dass den assistierten Suizid regelt, sondern ein separates Gesetz zur Suizidprävention, meint Bolze. Davon zu hören, sei im politischen Raum allerdings wenig. Das Land brauche aber zum Beispiel ein dichteres Netz an Beratungsstellen, an die sich Menschen egal welchen Alters wenden könnten, wenn sie Suizidgedanken hätten. „Bevor wir über Beihilfe zum Suizid reden, müssen wir erst einmal über Prävention reden“, sagt Bolze.
Auch in ihrer globalen Perspektive halten die Experten aus der Lancet-Kommission ein Umdenken für notwendig. Sterben müsse wieder mehr als beziehungsreicher und spiritueller Prozess verstanden werden weniger als biologisches Ereignis. Sterbende müssten aufgefangen werden in einem Netz aus Angehörigen, professionellen Begleitern, bezahlten und unbezahlten Helfern. In allen Lebensbereichen müsse das Reden über Sterben, Trauer, Tod selbstverständlich werden und ein Bewusstsein dafür wachsen, dass der Tod kein Versagen ist, sondern etwas, das einen eigenen Wert besitzt. Auch darüber, was ein „guter“ oder gar „natürlicher“ Tod sein könnte, haben sich die Experten Gedanken gemacht – um gleich einzuschränken, dass man dem Tod nicht die Unerbittlichkeit nehmen wolle und könne. Er bleibt die größte Zumutung für den Menschen. Und doch gibt es Umstände, die den Gedanken ans Sterben leichter machen können: ein verlässlicher Zugang zu Schmerztherapie etwa, in guter Kommunikation mit Pflegenden zu stehen, sich in Ritualen aufgehoben zu wissen, Entscheidungen treffen zu dürfen für den Fortgang von Therapie, emotionale Unterstützung von Familie und Freunden zu bekommen, das Gefühl, niemandem zur Last zu sein, schließlich ein tiefes Empfinden für die Einzigartigkeit dieses letzten Ereignisses im Leben. Viele dieser Bedingungen, so ist in Lancet zu lesen, könnten Sterbenden ohne kostspielige Medizininfrastruktur und ohne spezialisiertes Wissen geboten werden.
Menschen zu verlieren, ist ein brutaler Einschnitt, der nicht schöngeredet werden sollte. Und was es für jeden einzelnen Menschen bedeutet, aus dieser Welt gehen zu müssen, kann nur dieser einzelne Mensch ermessen. Der Tod bleibt erschreckend und absolut. Wie Menschen sterben dagegen, stellt Fragen an die Lebenden.