Nach Machtübernahme der Taliban Länder fordern Bundesaufnahmeprogramm für Flüchtlinge aus Afghanistan

Berlin · Die dramatische Lage am Hindukusch treibt viele Afghanen aus dem Land. Deshalb bereitet Deutschland die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge vor. Das bevölkerungsreichste Bundesland NRW geht dabei voran. Das Bundesinnenministerium hat unterdessen die Schätzung infrage gestellt, dass es bis zu fünf Millionen Flüchtlinge geben könnte.

 Binnenvertriebene aus den nördlichen Provinzen, die aufgrund von Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften aus ihrer Heimat geflohen sind.

Binnenvertriebene aus den nördlichen Provinzen, die aufgrund von Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften aus ihrer Heimat geflohen sind.

Foto: dpa/Rahmat Gul

Nach dem Start der Evakuierungsflüge aus Afghanistan bereiten sich die deutschen Bundesländer darauf vor, kurzfristig mehrere tausend Flüchtlinge unterzubringen. Allein Nordrhein-Westfalen will 1800 Menschen aufnehmen. Wie die Düsseldorfer Staatskanzlei mitteilte, geht es um 800 afghanische Ortskräfte, die in den vergangenen Jahren für Deutschland gearbeitet haben. 1000 weitere Plätze seien vornehmlich für Frauen aus den Bereichen Bürgerrechte, Kunst und Journalismus vorgesehen. „Die Situation in Afghanistan ist erschütternd“, sagte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). „Neben den Ortskräften sind mutige und engagierte Frauen großen Gefahren durch die Taliban besonders ausgesetzt.“ Diese Notsituation erfordere schnelles humanitäres Handeln. „Wir haben Vorsorge getragen, dass unsere Unterkünfte bereit sind.“

Baden-Württemberg rechnet damit, bis zu 1100 Ortskräfte und Verwandte aus Afghanistan aufzunehmen. Bei bundesweit nicht mehr als rund 8000 weiteren Ortskräften werde die Zahl aber „überschaubar“ sein, heißt es aus dem Justizministerium in Stuttgart. Auch Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland zeigten sich grundsätzlich offen für eine Aufnahme, nannten aber noch keine konkreten Zahlen. Niedersachsen stellt zunächst mindestens 400 Unterbringungsplätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes bereit. „Die Vorbereitungen sind bereits angelaufen, und die Kapazitäten stehen zur Verfügung", sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Er sei in „engen und guten Gesprächen“ mit der Bundeswehr und dem Bundesinnenministerium. „Wenn die Menschen in Deutschland angekommen sind, kann sich der Bund bei der Aufnahme der Ortskräfte, aber auch anderer vulnerabler Gruppen, auf uns als Länder verlassen", erklärte Pistorius. Ein Bundesaufnahmeprogramm sei jetzt die schnellere und effektivere Lösung als einzelne Landesaufnahmeprogramme.

Ein solches Bundesaufnahmeprogramm hatten die Innenminister der Länder bei einer Sonderkonferenz an diesem Mittwoch gemeinsam gefordert. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU), Vorsitzender der Innenministerkonferenz, mahnte eine schnelle Evakuierung an. „In einer Sonderinnenministerkonferenz zur dramatischen Lage in Afghanistan haben sich die Innenministerin und die Innenminister und -senatoren der Länder heute auf meine Einladung hin aktuell ausgetauscht. Es gibt ein eindeutiges Ergebnis und einen klaren Konsens in der Innenministerkonferenz (IMK), über alle Länder- und Parteiengrenzen hinweg: Es geht darum, schnellstens die deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus Afghanistan zu evakuieren“, sagte Strobl unserer Redaktion. „Und es geht darum, denen zu helfen, die uns geholfen haben und die jetzt bedroht sind – um die afghanischen Ortskräfte, auch etwa um Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, gerade auch um Frauen. Aufgrund der sicherheits- und außenpolitischen Verantwortung des Bundes, sehen wir hier den Bund für ein Bundesaufnahmeprogramm in der Pflicht“, sagte Strobl. Der Bund habe die operativen Möglichkeiten, die es in dieser Lage braucht, etwa um vor Ort in Afghanistan den Personenkreis zu identifizieren, um den es geht. „Unsere klare Erwartung ist, dass dieses Bundesaufnahmeprogramm nun schnell in die operative Umsetzung kommt. Deshalb gibt es in der IMK einen Konsens, dass keine Landesprogramm notwendig sein werden“, sagte Strobl. Die Bereitschaft in den Ländern ist bereits seit der letzten IMK im Juni in Rust klar und groß, ein entsprechendes Bundesprogramm dann umzusetzen, etwa nach dem Königsteiner Schlüssel. „Der Bund in seiner Verantwortung führt jedoch zuvor entsprechende Sicherheitsüberprüfungen und einen Corona-Test durch“, sagte Strobl. „Ein besonderes Anliegen ist mir noch persönlich, dass diese Menschen – viele davon sind ja hoch qualifiziert, oft mehrsprachig – auch schnell eine sinnvolle Beschäftigung und Tätigkeit finden“, fügte er hinzu. „Ich habe die Innenministerkonferenz für den morgigen Donnerstag zu einer weiteren Sonder-IMK eingeladen, in der Bundesinnenminister Horst Seehofer auch aktuell über die Ergebnisse des Sonderrats der europäischen Innenministerinnen und Innenminister informieren wird“, so Strobl.

Mehrere Unionspolitiker, darunter Strobl und Kanzlerkandidat Laschet sowie CDU-Vizechefin Julia Klöckner, hatten gesagt, Fehler aus dem Jahr der Flüchtlingskrise, also 2015, dürften sich nicht wiederholen. Mit Blick auf einen möglichen Anstieg von Geflüchteten aus Afghanistan in Deutschland sagte NRW-Flüchtlingsminister  Joachim Stamp (FDP) nun: „Was Fluchtbewegungen aus der Bevölkerung Afghanistans angeht, erwarte ich derzeit keine Entwicklung wie 2015/2016.“ Die meisten Flüchtlinge werden nach seiner Einschätzung in der Region bleiben. „Allerdings muss Deutschland jetzt dafür Sorge tragen, den Nachbarländern Afghanistans bei der ausreichenden Versorgung der Flüchtlinge helfen.“

Das Bundesinnenministerium distanzierte sich unterdessen von der Schätzung, dass wegen der Machtübernahme der Taliban mit bis zu fünf Millionen afghanischen Flüchtlingen zu rechnen sein könnte. „Das ist nicht die Einschätzung des BMI“, sagte ein Ministeriumssprecher am Mittwoch in Berlin. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) bei einer Unterrichtung der Bundestags-Fraktionschefs am Montag selber gesagt, dass 300.000 bis fünf Millionen Afghanen die Flucht ergreifen könnten – ohne das klar wurde, woher diese Zahlen stammen und was das Ziel dieser Menschen ist. Im Ministerium ist nun von „Hypothesen und Vermutungen“ aus anderen Quellen die Rede.

Denn noch ist völlig unklar, wie viele Menschen auf der Flucht sind. Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Afghanistan ist zwar mit Anfang Mai, also dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen und mehrerer Offensiven der Taliban, massiv gestiegen. Bis Anfang August verließen laut UN 390.000 Afghanen ihre Dörfer und Städte wegen Gefechten. Doch wie viele Afghanistan verlassen haben, ist offen. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von Anfang August verließen zu diesem Zeitpunkt jede Woche rund 30.000 Menschen das Land. Es ist unklar, wie sich die Fluchtbewegungen nach der faktischen Machtübernahmen der Taliban entwickeln werden. Zumal die Bereitschaft in der Region Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen,  nicht besonders groß ist.

Die Bundesregierung will nun in Absprache mit anderen EU-Staaten Gespräche mit den Nachbarländern Afghanistans aufnehmen. Kurzfristig aber geht es für die Bundesregierung um die Evakuierung gefährdeter Personen. Die Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler sagte: „Ich sehe für das weitere Vorgehen die gesamte Bundesregierung in der Pflicht, auch mit Weitsicht zu planen.“ Es wäre zum Beispiel wünschenswert gewesen, wenn das Bundesinnenministerium schon früher unbürokratischere Visumsverfahren zur Einreise ermöglicht hätte, als klar war, dass wir mit diesen Verfahren, die Menschen nicht schnell genug aus dem Land bekommen, so Kofler. „Es ist jetzt absolut essentiell, dass schnell geholfen wird. Das gilt sowohl für die Aufrechterhaltung der Luftbrücke und die damit verbundenen Evakuierungsmöglichkeiten, als auch Schutz und Unterstützung für gefährdete Menschen vor Ort.“ Ein besonderes Augenmerk müsse dabei auf Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, Frauenrechtlerinnen und Journalisten liegen. „Denn ihnen haben wir die Fortschritte, die es in den vergangenen 20 Jahren gegeben hat und jetzt zunichte gemacht werden, maßgeblich zu verdanken. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen“, sagte Kofler.

(jd/dpa)
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