Berlin Kurs auf die große Koalition

Berlin · Zwei Jahre vor den nächsten Bundestagswahlen steht das bisherige Bündnis von Union und FDP chancenlos da. Auch die Zustimmung für Rot-Grün bröckelt den Umfragen zufolge. Dagegen verstetigt sich der Wunsch nach Schwarz-Rot – oder, je nach Wahlergebnis, Rot-Schwarz.

Die größten und wichtigsten Richtungsentscheidungen haben in Deutschland "kleine" Koalitionen getroffen: Adenauers Westbindung, Brandts Liberalisierung, Kohls Wiedervereinigung. Und doch wächst in Deutschland die Sehnsucht nach der Neuauflage einer großen Koalition – so wie von 1966 bis 1969 und 2005 bis 2009. "Alle 40 Jahre reicht", sagten die Partner, als sie vor zwei Jahren auseinandergingen. Doch jetzt kann sich selbst ein Sozialistenhasser wie Michael Fuchs vom Wirtschaftsflügel der CDU vorstellen, es mit den Genossen noch einmal zu wagen.

Die bisherigen großen Koalitionen kamen aus Versehen zustande, nicht weil die Politiker sie wollten. 1966 war die wiedergewählte schwarz-gelbe Koalition gerade ein Jahr im Amt, als das Bündnis wegen Steuererhöhungen zur Haushaltssanierung zerbrach – Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) wurde sich mit Willy Brandt (SPD) schnell einig. So blieben der ersten großen Koalition noch drei Jahre Zeit zum Regieren.

Die Ergebnisse blieben den meisten Zeitgenossen als dürftig in Erinnerung. Das lag auch daran, dass in aufgewühlten Zeiten der 68er Studentenrevolte das Interesse vorwiegend außerparlamentarischen Vorgängen galt. Dagegen wirkten Haushaltssanierung und Ankurbelung der Wirtschaft wenig sexy – auch wenn dabei erstmals deutlich wurde, wie gut auch die großen Gegner zusammenarbeiten können. Als "Plisch und Plum" jedenfalls spielten sich Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) und Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) in traumhaften Pässen die Bälle zu.

Die nachfolgende Regierungsbildung bewies 1969, dass Regierungserfolge nicht zwangsläufig nur dem Regierungschef nutzen, wie 2009 von der SPD erlitten. Wiewohl Kiesinger sich noch in der Wahlnacht als Sieger fühlte, hatte Brandt bereits die Fühler zur FDP ausgestreckt – und konnte mit ihr die erste sozialliberale Regierung bilden. Die hielt sich 13 Jahre, bis die FDP sich von einer schwächelnden SPD befreite und mitten in der Wahlperiode 1982 zurück zur Union wechselte. Es war der Beginn von 16 Jahren kleiner Koalition unter Helmut Kohl.

1998 richteten sich die Parteispitzen wieder auf eine große Koalition ein: Gerhard Schröder (SPD) sollte Kanzler, Volker Rühe (CDU) Vize werden. Als in der Wahlnacht die Überhangmandate feststanden und es für Rot-Grün reichte, musste Schröder springen. Sieben Jahre regierte er mit Joschka Fischer.

Derweil bauten sich in der Opposition Union und FDP neu auf, schärften ihre Positionen in Richtung eines entschieden marktliberalen Ansatzes. Deshalb hatten die Wähler 2005 eine glasklare Alternative: Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Die Wähler wollten von beidem etwas – und zwangen den Handelnden die große Koalition auf. Gerade noch fetzten sich die Akteure auf offener Bühne. Nun arbeiteten sie staunend Schulter an Schulter. Zwar hatte die SPD von Anfang an das Gefühl, dass sich Angela Merkel mit ihren Leuten vorwiegend auf dem Sonnendeck aufhielt, während die SPD-Minister im Maschinenraum schufteten. Doch nach dem Gefühl der Handelnden hätte es 2009 auch gut mit Schwarz-Rot weitergehen können. Die Finanzkrise war noch nicht vorbei, es gab da noch einiges zu tun. Und mit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel und dem SPD-Finanzminister Peer Steinbrück gab es ein eingespieltes Team, das in der Krise immer enger zusammenwuchs. Wie sie erst die Banken und dann die Arbeitsplätze und dann die Konjunktur retteten, das war schon überzeugend. Im Schnitt lag die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer Regierung in der großen Koalition deutlich höher als zuvor bei Rot-Grün und danach bei Schwarz-Gelb.

Doch dieses Mal wollten die Wähler keine Neuauflage. Die Botschaft über die gestärkte FDP und die geschwächte SPD war eindeutig: weg mit der großen, her mit der kleinen Koalition. Freilich folgte die Ernüchterung bereits nach kurzer Zeit. Was die FDP am Wahltag gefühlt zu viel hatte, hat sie nun gefühlt zu wenig. Gleichwohl schaffen es ihre Matadoren nicht zu punkten. Weit abgeschlagen, noch hinter Gregor Gysi, liegen Vizekanzler Philipp Rösler und Außenminister Guido Westerwelle in der Beliebtheitsskala. Diese wird angeführt von Schwarz-Rot: Erster Wolfgang Schäuble (CDU), Zweiter Peer Steinbrück (SPD), Dritter Frank-Walter Steinmeier (SPD), Vierter Thomas de Maizière (CDU), Fünfte Angela Merkel (CDU), Sechste Ursula von der Leyen (CDU), Siebter Sigmar Gabriel (SPD).

Würde nächsten Sonntag gewählt, könnte es noch knapp für Rot-Grün reichen. Aber es wird nächsten Sonntag nicht gewählt. Und die Grünen verlieren von Monat zu Monat mehr. Und die SPD gewinnt, zumindest immer dann, wenn sie – wie beim Euro-Rettungsschirm – mit der Union stimmt. Nur noch zwei Prozentpunkte, dann ist die SPD mit dieser Strategie auch an der Union vorbeimarschiert.

Möglicherweise hat der Wähler Lust auf etwas Bewährtes, das zugleich ganz neu wäre: eine große Koalition unter SPD-Führung. Eventuell machen es Länder vor: In Mecklenburg-Vorpommern gab es Rot-Schwarz, in Berlin basteln Klaus Wowereit (SPD) und Frank Henkel (CDU) ebenfalls daran.

(RP)
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