kolumne gott und die welt Warum wir Gedenktage für jede und jeden haben

Erstaunlich, es vergeht kaum ein Tag im Jahr ohne ein offizielles Gedenken. Im Grunde ist das die Weltchronik der Menschheit, in der eine unbekannte honduranische Frau bedeutsam ist.

Beim Frühstückstisch fiel der Blick auf den Kalender und somit auf jenen Tag, der in diesem Jahr nun auch abgehakt werden kann – den internationalen Frauentag. Und wie so oft bei sensiblen, betulicher gesprochen: irgendwie gesellschaftsrelevanten Tagen, weiß man nicht so genau, ob dieses Gedenken nun tatsächlich notwendig und sinnvoll oder sinnvolle Routine oder bloß eine perfide Form der Diskriminierung ist. Wer diese Frage nicht eindeutig beantworten kann oder vielleicht die Antwort kennt, diese aber nicht zu äußern wagt, sollte aus atmosphärischen Gründen die Finger von jeder öffentlichen Exegese lassen und sich aufs weitere Brötchenschmieren kaprizieren. Aber irgendwann ist dann doch genug hin- und hergeschmiert und der Wunsch nach Austausch nicht mehr zu unterdrücken.

Am besten beginnt man mit dem Anfang, also mit dem Januar und dem unstrittigen Welttag für Flüchtlinge und Migranten (20. Januar), dem überraschenden Afrikatag (6. Januar), dem skandinavischen, erstaunlicherweise aber nicht von Ikea erfundenen St.-Knut-Tag (13. Januar) und dem Europäischen Datenschutztag (26. Januar). Der Februar hebt an mit dem Welttag der Feuchtgebiete, dem Murmeltiertag, dem Weltkrebstag und dem Safer Internet Day.

Darüber wird der doppelte Espresso kalt, weicht doch der anfängliche Spott der zunehmenden Erkenntnis, dass das alles irgendeinen ganz großen Sinn haben muss. Und dass Außerirdische, die einmal die Erde besuchen und nichts anderes mehr als die Liste unserer Gedenktage finden werden, einfach nur denken: Mensch, tolle Menschen! Eine Weltchronik der Erinnerungen ist das, und diese staatstragende Stimmung lassen wir uns auch nicht vom Weltnierentag, vom Tag der offenen Töpferei, vom Welttag des Radios und vom Weltlachtag vermiesen. Was haben wir früher ohne Kenntnis dieser Ankerplätze unserer Existenz gemacht? Wahrscheinlich nur stumpf und dumpf dahingelebt. Und wie konnten wir den 22. April jemals unbedacht lassen: den Tag der Erde?

Ja, sicher doch, der Internationale Frauentag ist dann auch sehr okay, ein wichtiges Rädchen im Getriebe der Welt. Apropos, an was denken die Menschen eigentlich am Geburtstag des Frühstückstischlers? Ach, sieh mal, es ist der Tag der honduranischen Frau, die zwar unbekannt, aber jetzt unvergessen bleiben wird. Gelassener verlässt man den Tisch der Krümel und Kaffeeflecken, weil – bei allem, was auch passiert – irgendein Tag mit irgendeiner Erinnerung auf jeden Fall folgen wird.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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