Aktuelle Bertelsmann-Studie Mehrkindfamilien besonders von Kinderarmut betroffen – NRW im Mittelfeld

Berlin · Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Besonders betroffen sind Alleinerziehende sowie kinderreiche Familien. Eine aktuelle Studie zeigt, dass sich die Lage in den vergangenen beiden Jahren nicht gebessert hat.

Ein fünfjähriger Junge sitzt an einem Tisch und zählt sein gespartes Taschengeld. Viele Kinder sind armutsgefährdet.

Ein fünfjähriger Junge sitzt an einem Tisch und zählt sein gespartes Taschengeld. Viele Kinder sind armutsgefährdet.

Foto: dpa/Jens Kalaene

Kinder- und Jugendarmut bleibt ein drängendes Problem in der Bundesrepublik. Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene ist von Armut bedroht. In absoluten Zahlen bedeutet das: Knapp 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,55 Millionen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren galten bereits 2021 in Deutschland als armutsgefährdet. Das geht aus der neuen Untersuchung „Kinder- und Jugendarmut in Deutschland“ hervor, die die Bertelsmann Stiftung an diesem Donnerstag veröffentlicht hat.

Demnach lebten im Sommer 2022 rund 1,9 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren in Haushalten, die Sozialleistungen beziehen. Diese Zahl stieg erstmals seit fünf Jahren. Die Autoren der Studie führen das vor allem auf den Zuzug von ukrainischen Geflüchteten zurück. Die Quote betrug in Westdeutschland 13,4 Prozent aller Jugendlichen, in Ostdeutschland 16 Prozent. Es gibt erhebliche regionale und kommunale Unterschiede. Während die Zahl im bayerischen Roth bei nur nur drei Prozent lag, war der Anteil in Gelsenkirchen bei 42 Prozent. In Bremen fällt die Armutsgefährdungsquote am höchsten aus, das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen liegt etwa im Mittelfeld.

„Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten. Das ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes untragbar“, sagte Bildungsexpertin und Mitautorin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung. Die Inflation würde das Problem noch verschärfen.

Besonders stark von Armut betroffen sind junge Menschen in alleinerziehenden Familien sowie in Familien mit drei und mehr Kindern. Das größte Armutsrisiko haben Kinder in Mehrkindfamilien mit einem alleinerziehenden Elternteil (86 Prozent). Daher fordert die Bertelsmann Stiftung die Bundesregierung dazu auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung schnellstmöglich an den Start bringen.

Doch auch viele junge Erwachsene sind mit Armut konfrontiert. Laut der Studie weisen 18- bis 25- Jährige mit 25,5 Prozent sogar das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen auf. Frauen sind dabei stärker betroffen als Männer, junge Menschen in Ostdeutschland häufiger als die in Westdeutschland. Sozialhilfe beziehen allerdings nur sieben Prozent dieser Altersgruppe. Der Grund: Studenten und Azubis erhalten meist andere sozialstaatliche Maßnahmen, etwa BAföG oder Wohngeld.

„Die hohe Armutsbetroffenheit junger Erwachsener weist jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Systeme nicht gut zusammenwirken. Ohne Unterstützung durch ihre Eltern wäre es vielen nicht möglich, ihre Existenz zu sichern. Damit hängen die Chancen junger Menschen weiterhin zu stark vom Elternhaus ab“, sagte Stein. Um die Lebensrealität junger Menschen zu verbessern, seien eine Ausbildungsgarantie sowie eine weitere BAföG-Reform unerlässlich, so die Expertin. Eine Ausbildungsgarantie will die Bundesregierung in Kürze auf den Weg bringen.

Dass das Kindergeld zum Jahreswechsel auf einheitlich 250 Euro pro Kind angehoben wurde, sei ebenfalls kein Durchbruch. „Eine Erhöhung des Kindergeldes ist teuer, vermeidet aber keine Armut, denn es kommt bei Familien im SGBII-Bezug nicht an. Die Kindergrundsicherung muss die Verteilung mit der Gießkanne beenden und gezielt denjenigen helfen, die besonders darauf angewiesen sind“, sagte Stein.

Zum Hintergrund: Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in Deutschland zur Verfügung hat. Zudem haben die Studienautoren die SGBII-Hilfequote bemüht, die Aufschlüsse über das Armutsrisiko etwa nach Wohnort oder Familienform gibt.

Die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, beklagte die Studienergebnisse. „20 Prozent unserer Kinder und 25 Prozent der jungen Erwachsenen leben in Armut – das bedeutet Mangel, Verzicht, Scham und eine schwere Einschränkung ihrer Chancen auf Bildung und Teilhabe“, sagte Esken der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (Freitag). „So können 25 Prozent der Grundschüler nicht genügend gut zuhören, sich artikulieren, lesen, schreiben und rechnen, um die Schule mit Erfolg abzuschließen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Diese Zustände sind nicht hinnehmbar“, kritisierte die SPD-Vorsitzende. „Eine Gesellschaft, die nicht genug in ihre Kinder investiert, verspielt ihre Zukunft“, sagte Esken.

Aus der FDP kam die Forderung nach weniger Bürokratie. „Mittel zur sozialen Teilhabe für Kinder und Jugendliche aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket kommen aufgrund endloser Bürokratie nicht einmal zu 30 Prozent bei den Betroffenen an“, sagte Jens Teutrine, Vorsitzender der Jungen Gruppe der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag. „Statt Milliarden ins Schaufenster zu stellen, die aber wegen komplizierter Antragsstellung und unübersichtlichem Leistungsdschungel nie dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden, braucht es einen digitalen Zugang und automatisierte Auszahlung aus einer Hand. Sozialleistungen aus der Gießkanne schaffen keine Aufstiegschancen und kann der Staat auf Dauer nicht finanzieren“, so Teutrine. „Bei der Kindergrundsicherung darf es nicht um eine Erhöhung des Umverteilungsniveaus gehen, sondern um weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung, mehr Wirksamkeit sozialpolitischer Maßnahmen und die Chance zu sozialem Aufstieg“, sagte der FDP-Politiker.

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