Lampedusa Kinder von Lampedusa malen das Drama
Lampedusa · Eine Insel zählt die Toten: Die Einwohner versuchen, den Untergang des Flüchtlingsschiffs und seine Folgen zu verarbeiten.
Es gibt sie immer noch, die Badegäste, die auf Lampedusa die letzten warmen Tage genießen, nicht weit vom Unglücksort entfernt, am sogenannten Kaninchen-Strand, oder in den anderen Buchten der Insel. Doch die Einwohner von Lampedusa beachten sie kaum, es gibt zu viel zu tun. Das Unglück ist ein nicht enden wollender Schock für die Insel. Auch die Kinder leiden: Eine Grundschulklasse hat Bilder gemalt und ausgestellt, die das Unfassbare bunt und mit kindlichen Strichen darstellen – auf Anregung der Lehrer, die ihren Schülern helfen wollen, so die Tragödie zu verarbeiten. Mehr als 200 Menschen waren beim Untergang des Flüchtlingsbootes vor Lampedusa ums Leben gekommen.
Giusi Nicolini (51) ist in diesen Tagen die engagierteste Frau auf Lampedusa. Die Bürgermeisterin war es, die die Öffentlichkeit als Erste über die Katastrophe informierte. Laufend gab sie die Informationen weiter, die sie von den Rettungskräften erhielt. Inzwischen ist Nicolini vor allem mit den Besuchern beschäftigt, viele Politiker sind angereist.
Am Wochenende war die Integrationsministerin Cécile Kyenge zu Besuch. Kyenge und Nicolini, so wirkte es, wuchsen für einen Tag zu einer Einheit zusammen. Beide trugen dunkle Sonnenbrillen, die Bürgermeisterin ihre grün-weiß-rote Schärpe. Beide gehören der Mitte-Links-Partei "Demokraten" an. Die Ministerin weinte beim Anblick der vielen Särge im Hangar am Flughafen. Nach dem Besuch des Auffanglagers soll sich die Ministerin bei der Bürgermeisterin eingehakt haben.
Später ließen die beiden Frauen ihrem Frust freien Lauf. "Ich schäme mich, Italienerin zu sein", sagte Nicolini angesichts der Zustände im Auffanglager. 250 Betten stehen dort zur Verfügung, derzeit befinden sich 1000 Menschen in dem abgezäunten Areal, darunter auch die 155 Überlebenden der Katastrophe. Manche schlafen auf den Bäumen, obwohl es nachts regnet. Den 100 Frauen und Kindern steht eine einzige Toilette zur Verfügung. "Diese Unschuldigen brauchen konkrete Antworten", forderte Kyenge. 30 000 Flüchtlinge kamen dieses Jahr schon über das Mittelmeer.
Auf der Insel werden weiter die Toten gezählt. Immer wieder legen Schlauchboote am Hafen an, die Leichen transportieren. Die Rettungskräfte scheinen emotional fast am Ende: Die Taucher der Finanzpolizei berichten von unvorstellbaren Bildern in dem 47 Meter unter der Oberfläche liegenden Wrack. Lässt es der Wellengang zu, lassen sie sich an einem Seil zu dem Schiff hinab, das leicht schräg auf dem Meeresboden liegt.
"Die Körper quellen aus allen Öffnungen heraus", sagt Antonio D'Amico, einer der Taucher. Mit zitternden Lippen berichtet auch sein Kollege Giuseppe Del Giudice von dem Grauen, das er unter Wasser erlebt hat. Wie Schaufensterpuppen hätten die Leichen auf ihn gewirkt, wären da nicht die hilfesuchenden Blicke der Ertrunkenen. Einen Körper nach dem anderen bringen die Taucher nach oben. Immer wieder müssen die Männer bei ihren Berichten abbrechen und sich neu fassen. D'Amico sagt leise, er werde vor allem einen Anblick nicht vergessen: den eines ertrunkenen Kindes im weißen Trainingsanzug. Vier Taucherteams wechseln sich ab, es ist ein Kampf gegen die Zeit. Denn die starke Strömung droht die Leichen davonzutreiben.
Morgen besucht EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Lampedusa. "Sie werden bestimmt alles schön herrichten für seinen Besuch", sagt die Bürgermeisterin mit ironischem Unterton. Kollegen aus ganz Italien hätten sich bei ihr gemeldet, weil sie minderjährige Flüchtlinge aufnehmen wollten. "Aber ich kann nichts machen und muss alles an die Polizei weiterleiten."