Karsai überrumpelt Obama

Völlig überraschend drängt Afghanistans Präsident die Nato zum schnellen Abzug. Statt 2014 sollen die ausländischen Truppen schon im kommenden Jahr abziehen und bis dahin in ihren Stützpunkten bleiben. Gleichzeitig kündigen die Taliban die Verhandlungen mit den Amerikanern auf.

Kabul/Düsseldorf US-Verteidigungsminister Leon Panetta trug in Kabul eine Miene zur Schau, die wohl ausdrücken sollte: Wir kriegen das schon irgendwie hin. Dabei hatte der afghanische Präsident Hamid Karsai ihm soeben eine Forderung präsentiert, die den mühsam ausgetüftelten Abzugsplan der Nato durcheinanderwirbeln muss. Statt wie bisher vorgesehen Ende 2014 sollen die ausländischen Truppen nun schon 2013 das Land verlassen. Und bis dahin, so verlangte Karsai, sollten sich die Soldaten gefälligst aus den afghanischen Dörfern in ihre Stützpunkte zurückziehen. "Wir sind bereit, alle Sicherheitsverantwortung für das Land zu übernehmen", tönte Karsai, dessen Macht in Wirklichkeit kaum über die Hauptstadt Kabul hinausreicht.

Dort reagierten viele Politiker geschockt. Hier hat niemand vergessen, wie das Land einst nach dem überstürzten Abzug der Russen in einem blutigen Bürgerkrieg versunken ist. Karsais Kritiker spekulieren schon länger, der Präsident habe den Bezug zur Realität verloren, denn ohne die Ausländer und besonders die Amerikaner wäre seine Regierung nicht überlebensfähig. Doch Karsai neigt zu emotionalen Entscheidungen, und er hat den USA nie verziehen, dass sie ihm vor der Wahl 2009 plötzlich die Unterstützung entzogen.

Anlass für den überraschenden Vorstoß des afghanischen Präsidenten ist das Massaker, das ein US-Soldat am Sonntag unter Zivilisten angerichtet hatte. 16 Menschen, darunter Frauen und Kinder, waren bei dem Amoklauf des Unteroffiziers in der südafghanischen Provinz Kandahar niedergemetzelt worden. Die Tat sorgte, nur wenige Wochen nach dem Bekanntwerden einer Koranverbrennung auf einem US-Stützpunkt, für neuen Hass auf die ausländischen Soldaten. Der 38-jährige Täter wurde inzwischen vom US-Militär diskret nach Kuwait ausgeflogen – die Amerikaner wollten wohl Fakten schaffen, nachdem in Afghanistan die Forderungen nach einer Aburteilung des Amokläufers vor Ort immer drängender geworden waren.

Auch um diese explosive Situation zu entschärfen, war US-Verteidigungsminister Panetta nach Kabul gekommen. Auf die Forderung Karsais nach einem Express-Abzug war er offensichtlich nicht gefasst. Dabei lassen nur lahm dementierte Planspiele in Washington ahnen, dass auch US-Präsident Barack Obama längst mit einem schnelleren Abzug aus Afghanistan liebäugelt. Seine Generäle sind zwar entsetzt, aber Obama denkt vor allem an seine Wiederwahl im November. Und er weiß, dass die Amerikaner den verlustreichen Krieg am Hindukusch gründlich leid sind. Fast zwei Drittel der US-Bürger plädieren in Umfragen dafür, die Boys möglichst sofort nach Hause zu holen.

Das hat auch in Berlin Sorge ausgelöst. Nicht umsonst zeigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Truppenbesuch in Afghanistan Anfang der Woche betont skeptisch bezüglich des angepeilten Abzugtermins Ende 2014. Merkel will nicht durch einen überstürzten Abschied vom Hindukusch das Wenige gefährden, was die Bundeswehrsoldaten in zehn Jahren vor Ort erreicht haben. Und sie weiß, dass die Truppe größte logistische Probleme hätte, einen schnelleren Rückzug halbwegs geordnet über die Bühne zu bringen. Schon im kommenden Jahr neben 5000 Soldaten auch Tausende Container mit Ausrüstung und schwerem Gerät abzuziehen, gilt als nahezu unmöglich.

Vor allem aber würde eine dramatisch beschleunigte Exit-Strategie der Amerikaner die im Norden Afghanistans stationierten Bundeswehr-Einheiten möglicherweise auch militärisch in die Bredouille bringen. Ohne die Hubschrauber der US-Army wäre die Bundeswehr wohl nur noch sehr eingeschränkt operationsfähig. Und ohne die Schlagkraft der amerikanischen Spezialkräfte könnten die Taliban sehr schnell wieder in bereits freigekämpfte Gebiete einsickern.

Dass die radikal-islamischen Kämpfer sich längst auf die Zeit nach dem Abzug des ausländischen Truppen einrichten, zeigt auch ihre gestrige Ankündigung, den gerade erst etablierten Gesprächsfaden mit den Amerikanern zu kappen. Die Taliban teilten im Internet mit, man habe die Entscheidung zur Aussetzung der "vorläufigen Gespräche" getroffen, weil diese sich als "Zeitverschwendung" erwiesen hätten. Die Taliban betonten zudem erneut, dass sie, anders als von Karsai dargestellt, nicht mit der afghanischen Regierung verhandelten: "Karsai kann keine einzige Entscheidung ohne vorheriges Einverständnis der Amerikaner treffen."

(RP)
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