Berlin Kanzlerin unter Vorbehalt

Berlin · Die Bundesregierung ist nur noch geschäftsführend im Amt. Diese Zeit ist voller juristischer Besonderheiten - Versteinerung inklusive.

Nach seiner eigenmächtigen Zustimmung zur Glyphosat-Verwendung verlangten Politiker quer durch die Parteien, Angela Merkel müsse Agrarminister Christian Schmidt (CSU) entlassen. Wenn sie das wollte, müsste sie den Bundespräsidenten bitten, Schmidt die Entlassungsurkunde auszuhändigen, damit der Rauswurf rechtswirksam würde. Aber: Die Urkunde hat Schmidt, wie alle anderen, bereits am Tag der Konstituierung des neuen Bundestages erhalten. Er ist längst entlassen - seit dem 24. Oktober. Wie also soll man einen Entlassenen entlassen? Die Frage gehört zu den Besonderheit des Grundgesetzes für die Geschäftsführung zwischen zwei Regierungen.

So kann Merkel eigentlich nicht zurücktreten. Sie ist von der Verfassung nämlich verpflichtet, ihr Amt ohne zeitliche Begrenzung weiter auszuüben, wenn der Bundespräsident sie ersucht, die Regierungsgeschäfte weiterzuführen. Das hat Frank-Walter Steinmeier kurz nach Überreichen der Entlassungsurkunden getan. Und Merkel hat ihrerseits die Bundesminister in die Pflicht genommen, geschäftsführend bei der Stange zu bleiben. Sie kann nun keine neuen Minister mehr berufen. Die Verfassungsjuristen sprechen hier vom "Versteinerungsprinzip": Wer im Amt ist, der bleibt. Punkt.

Juristische Kommentare sahen es bislang zwar durchaus als möglich an, Entlassene auch faktisch zu entlassen. Aber nur dann, wenn ein Verbleiben "unmöglich" erscheint: subjektiv (wenn der Betreffende zu krank ist) oder objektiv (wenn sachliche Gründe es erzwingen). Das war so, als der Finanzminister Bundestagspräsident wurde, die Arbeitsministerin SPD-Fraktionschefin und der Verkehrsminister CSU-Landesgruppenchef. Wolfgang Schäuble, Andrea Nahles und Alexander Dobrindt übernahmen wichtige Rollen auf der Seite der Regierungskontrolle. Da können sie schlecht gleichzeitig regieren.

In der Konsequenz kollidierte Merkel dann jedoch mit Regierungsbeschlüssen: Nach der amtlichen Vertretungsregelung hätte nun Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) das der CDU zustehende Finanzministerium mitübernehmen müssen, Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) das der SPD versprochene Arbeitsministerium und Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) das der CSU eingeräumte Verkehrsministerium. Merkel entschied sich, die offizielle Vertretungsregelung beiseitezuschieben und den Koalitionsvertrag vorzuziehen, wonach die Parteien selbst entscheiden, wer "ihre" Ressorts übernehmen soll. So wurde Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) auch Finanzminister, Familienministerin Katarina Barley (SPD) auch Arbeitsministerin, Christian Schmidt auch Verkehrsminister. Würde Merkel ihn rauswerfen, verstieße sie nicht nur gegen den Koalitionsvertrag, sondern risse nur noch tiefere Lücken, die die Handlungsfähigkeit der Regierung beträfen.

Verfassungsjuristen sind sich einig, dass Merkel die Regierungsgeschäfte in vollem Umfang weiterführen kann. Ausnahmen sind im Grundgesetz nicht vorgesehen. In der Verfassungswirklichkeit hat sich aber der Grundsatz herausgebildet, dass eine geschäftsführende Regierung alles unterlässt, was eine nachfolgende Regierung bindet. Das ist besonders bei internationalen Verträgen der Fall. Diese müssten zudem noch vom Parlament ratifiziert werden. Dort aber ist derzeit noch nicht geklärt, wer mit wem zusammen für welche Politik stehen will.

Eigentlich könnte das Parlament jetzt seine Muskeln zeigen und sich voll handlungsfähig machen. Gewöhnlich stellt es sich mit seinen Fachausschüssen jedoch spiegelbildlich zu den Bundesministerien auf, um sie besser kontrollieren zu können. Ungeklärt ist auch, welche Parlamentarier Funktionen in der Regierung übernehmen und deshalb etwa als Ausschussvorsitzende nicht infrage kommen. Deshalb wartet das Parlament in der Regel, bis die Regierung steht. Das war in der Vergangenheit zwischen dem 23. und 86. Tag nach der Wahl geschehen. Am 20. Dezember ist dieses Mal bereits der 87. Tag erreicht, aber die Verhandlungen beginnen wohl erst nach Weihnachten.

Damit betritt Deutschland verfassungsrechtliches Neuland. Denn eigentlich soll der Bundespräsident nach "angemessener" Frist einen Vorschlag zur Kanzlerwahl machen. Was aber ist "angemessen"? 90 Tage? 120? Die Frage stellte sich bislang nicht. Nun könnte es ernst werden. Vor allem, wenn es auch mit der großen Koalition nicht klappt. Um eine Neuwahl auszulösen, vermag Merkel selbst nichts auszurichten. Sie kann die Vertrauensfrage nicht stellen, da sie ja nur das Vertrauen des vorherigen Bundestages besaß. Der aber ist abgewählt.

Derweil läuft das geschäftsführende Regierungshandeln weiter. So wie bei Schmidt und Hendricks, die ihren Glyphosat-Streit besprachen und sich darauf verständigten, die Verwendung in Deutschland restriktiv zu handhaben. Die Details regelt die nächste Regierung. Wann auch immer.

(may-)
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