Debatte War Gaucks Türkei-Kritik überzogen?

Berlin · Bundespräsident Joachim Gauck hat bei seinem Staatsbesuch in Ankara sehr offen Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit angemahnt. Das hat eine heftige Diskussion ausgelöst - in Deutschland und in der Türkei. Durfte Gauck das? Zwei Meinungen.

 Gauck, Erdogan: Umstrittenes Treffen.

Gauck, Erdogan: Umstrittenes Treffen.

Foto: ap

Ja. Der Bundespräsident ist eine verfassungsrechtliche Schwachstelle im System — ohne politische Richtlinienkompetenz, wie sie das Grundgesetz dem Staatsorgan Bundeskanzler eingebrannt hat. Manchmal möchte man sich diese Schwachstelle im Goldrand einfach wegdenken und schauen, ob etwas passiert, das für die Res publica von Nachteil wäre. Wenn es gut gehen soll mit dem von Parteiführungen ausgeguckten Bundespräsidenten, besitzt er ein freundliches Wesen, überdurchschnittliche Begabung zur öffentlichen Rede und die Fähigkeit, nach akzeptiertem politisch-moralischem Violinschlüssel wohlklingende Töne anzuschlagen.

Ein Graus sind Bundespräsidenten, die glauben, wenn sie sich bloß als "politische Präsidenten" begreifen, könnten sie ihr tatsächliches politisches Eunuchendasein dem Anschein nach vertuschen. Noch schwerer zu ertragen sind Bundespräsidenten, die so wie jetzt der wackere Joachim Gauck als Staatsgäste (!) meinen, dem Gastgeber politische Lehrstunden geben zu müssen. So etwas mag sich daheim als bundesrepublikanisches Gewohnheitsrecht eingebürgert haben. Dort wendet sich der Bundespräsident von Zeit zu Zeit mahnend, in der Regel sehr zeitversetzt zum großen Themenstrom der Politik, mit goldenen Worten an jene, die ihn nie direkt wählen konnten, aber bitteschön brav zuhören sollen. Was die wenigsten tun. Das Volk spürt, dass hier ein Machtloser zu ihm redet. Im Fußballjargon nennt man so etwas Ballbesitz ohne Torerfolg. Überall im Ausland, auch in der Türkei, weiß jeder Politiker von Rang um die Rolle des Bundespräsidenten im deutschen Staatsgefüge: eine Persönlichkeit fürs Zeremonielle, für rote Teppiche, weiße Mäuse, Kristallglas und Damast. Das gastgebende Land ehrt im Bundespräsidenten das Gastland und bringt diesem politisch, kulturell, ökonomisch Wertschätzung entgegen. Wenn die Gauck'sche Übung des erhobenen Zeigefingers (es fehlte nur noch der ungebetene teutonische Rat: Liebe Türken, nehmt euch ein Beispiel an uns deutschen Musterdemokraten) auf Staatsbesuchs-Ebene einreißen sollte, ginge international einiges Porzellan kaputt.

Wenn Gauck seine Belehrung damit zu rechtfertigen versucht, "unter Freunden" müsse so etwas möglich sein, möchten wir ihn an einen weisen Staatsmann erinnern: "Staaten haben keine Freunde, nur Interessen." Unser Interesse ist Realpolitik, keine "Deutschstunde" für Ausländer. Irritierend Gaucks Einwand, seine Einmischung in die Angelegenheiten der Türkei sei moderat ausgefallen. Ja, müssen die Türken etwa dankbar dafür sein, dass der Oberlehrer aus Berlin ihnen keinen Strafaufsatz ("Ich muss mehr Demokratie wagen") aufgebrummt hat? Vor Jahren haben wir es uns zu Recht verbeten, dass Türkei-Premier Erdogan vor Landsleuten in Köln wie die diplomatische Axt im Walde aufgetreten ist. Peter Scholl-Latour hat mit seiner Drastik schon recht: Gerade wir sehr späte, zu Demokraten Umerzogene sind gut beraten, im Ausland noch eine ganze Weile "die Schnauze zu halten", wenn es um Recht und Moral geht. Gerhard Schröder hat auch recht: Ihn ärgern Offizielle, die, wie von der Heimatfront erwartet, etwa in Peking über Menschenrechte reden: "Der chinesische Offizielle weist das routiniert zurück. Alle haben ihre Pflicht getan. Gewonnen ist nichts." Reinhold Michels

Nein. Der Bundespräsident ist Stabilitätsanker in Krisenzeiten und Notar von Personalentscheidungen und Gesetzen, wenn alles ruhig seinen Gang nimmt, sowie Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland im Ausland — so lautet die Verfassungstheorie. Die Verfassungswirklichkeit hat dem Amt zusätzliche Aufgaben zugeschrieben, die sowohl sein Verhalten (siehe den Sturz Christian Wulffs) als auch seine Wirkung auf die Fliehkräfte in der Gesellschaft betreffen. Der Präsident soll zusammenhalten, was zusammengehört, und er soll rechtzeitig warnen und mahnen, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten. Dafür hat er vor allem ein Mittel: sein Wort.

Nun hat sich Deutschland für einen besonders wortmächtigen Präsidenten entschieden. Joachim Gauck ist geprägt von seinen Erfahrungen in der untergehenden DDR, als er durch Predigten und Reden seinen Teil dazu beitrug, dass die Menschen der Stasi die Stirn boten und trotzdem den unblutigen Regime- und Systemwechsel schafften. Auch in der Türkei beschrieb Gauck seine Glücksgefühle aus der Periode der deutschen Wiedervereinigung, als die Zeit der Einschüchterung und Willkür, die Konzentration der Macht in den Händen einer Partei endlich vorbei gewesen sei. Feinfühlige Diplomaten hätten das schon als dezente Kritik am Vorgehen der türkischen Regierungspartei AKP gegen Bürgerproteste interpretieren können. Doch Joachim Gauck sprach nicht in einem abgehobenen Zirkel von Politprofis, sondern zu Studenten, denen die massiven Einschüchterungen des Erdogan-Staates noch in den Knochen stecken. Und vor ihnen bezog er eindeutig Partei für die Demokratie.

Über Wochen waren auch in Deutschland die Schlagzeilen voll von den Wellen der Gewalt auf dem Taksim-Platz in Istanbul und in etlichen anderen türkischen Städten, von den Einschränkungen der Presse-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in der Türkei. Das hat in Deutschland auch Millionen türkischstämmiger Bürger und türkische Einwohner erschreckt und in höchstem Maße besorgt gemacht um ihre nächsten Verwandte und Freunde, die vielleicht gerade noch in Deutschland gelebt haben, oder diejenigen, die es bald tun werden. Gauck ist auch ihr Präsident, und er verwies darauf, dass zahlreiche Menschen türkischer Herkunft in Deutschland seine Meinung teilen.

Die Deutschen und die Türken haben ein solches Maß des Miteinanders erreicht, dass der türkische Präsident in Deutschland zu Recht rückhaltlose Aufklärung der Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" an türkischstämmigen Opfern und Konsequenzen für die Behördenorganisation einfordert, ohne dass wir über eine Einmischung in innere Angelegenheiten pikiert wären. Genauso darf der Präsident der Deutschen (und von Millionen direkt im eigenen Umfeld betroffener Deutsch-Türken) bei einem Türkei-Besuch nicht nur den schönen blauen Himmel über dem Bosporus in den Blick nehmen.

Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen Erdogan
14 Bilder

Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen Erdogan

14 Bilder
Kommunalwahl in der Türkei: Erdogan kämpft um sein Lebenswerk
12 Bilder

Kommunalwahl in der Türkei: Erdogan kämpft um sein Lebenswerk

12 Bilder

Er sei ein Anwalt der Demokratie geworden, und als solcher stütze er sich nicht nur auf die Worte und Taten der Regierenden, sondern höre auch die Stimmen der Regierten, sagte Gauck in Ankara. Zu denen hat er gesprochen, und zwar kein Wort zu wenig und keines zu viel. Gregor Mayntz

(csi)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort