Einigung auf gemeinsame Europapolitik "Jetzt sind wir ja alle Freunde"

Berlin · Die große Runde mit 75 Politikern von Union und SPD einigt sich im Willy-Brandt-Haus schon mal auf eine gemeinsame Europapolitik.

Einigung auf gemeinsame Europapolitik: "Jetzt sind wir ja alle Freunde"
Foto: Wolfgang Kumm

Sigmar Gabriel, einer der vielen Erben Willy Brandts, führt die Kanzlerin nach ihrer Ankunft in der SPD-Zentrale erst einmal zur bronzenen Statue des SPD-Übervaters. Angela Merkel blinzelt im lichtdurchfluteten Atrium des Willy-Brandt-Hauses unweigerlich nach oben, die Willy-Brandt-Statue dort ist schließlich 3,40 Meter hoch. "Sie kennen sich ja aus", sagt SPD-Chef Gabriel zu Merkel, die bereits 2005 Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten in deren Zentrale geführt hatte. Dann geht es mit dem Fahrstuhl hinauf in den fünften Stock, wo sich insgesamt 75 Politiker von Union und SPD aus Bund und Ländern zur ersten großen Verhandlungsrunde versammeln.

Zum Auftakt gibt es Frikadellen mit Senf und Merkels geliebte Kartoffelsuppe. "Das Essen ist schon mal adäquat", freut sich die Kanzlerin. Der Wahlkampf ist schon vergessen, die Stimmung zwischen Union und SPD gelöst. Die SPD habe "extra die Fenster geputzt" und "ein bisschen mehr Blumenschmuck als sonst" für die Gäste, witzelt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Und CDU-Vize Julia Klöckner lässt sich den Satz entlocken: "Jetzt sind wir ja alle Freunde."

Doch die Unterhändler von Union und SPD wissen auch, dass sie nun rasch zu Ergebnissen kommen müssen, dass sie liefern müssen. Es geht daher jetzt konzentrierter zu als beim ersten großen Treffen vergangene Woche, das viele in eine geradezu beschwingte Stimmung versetzt hatte.

Die Runde einigt sich auf ein gemeinsames Papier zur Europapolitik, das nach gut zwei Stunden von den Chefs der entsprechenden Arbeitsgruppe vorgestellt wird. Demnach wollen Union und SPD die schon länger geplante Finanztransaktionssteuer in Europa vorantreiben. Die Bundesregierung werde eine neue Initiative zur Einführung der Steuer schon auf dem nächsten EU-Gipfel im Dezember starten, kündigt Martin Schulz, SPD-Unterhändler und Chef des Europaparlaments, an. Bisher unterstützen elf EU-Staaten die Steuer. Strittig bleibt, wohin die Einnahmen aus der Steuer fließen sollen. Union und SPD wollen aber auf jeden Fall mehr tun zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa und auch zur Wachstumssteigerung.

Künftig solle zudem das Prinzip der Subsidiarität in der EU wieder eingehalten werden. Was auf nationaler und lokaler Ebene besser gelöst werden könne, solle auch dort geregelt werden und nicht in Brüssel. Viele Leute in Deutschland ärgere die Brüsseler Regelungswut. "Das müssen wir ernst nehmen", sagt Schulz.

Offen blieb die wichtige Frage, welche Institution künftig darüber entscheiden soll, ob eine notleidende Großbank in Europa abgewickelt wird. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will diese Aufgabe nicht der EU-Kommission überlassen und hat stattdessen eine neu zu gründende Agentur im Auge, die an den Rat der EU-Regierungen angebunden wäre. Beim nächsten Rat der EU-Finanzminister Mitte November sollen zur Bankenunion endgültige Entscheidungen fallen. Schäuble wolle die SPD auf dem Weg dorthin eng einbinden, sagen Schulz und sein Gegenüber, der Chef der Landesgruppe der Union im Europaparlament, Herbert Reul.

In der Sitzung ruft Merkel nur den bayerischen Finanzminister Markus Söder (CSU) einmal zur Räson. Der hatte angemerkt, dass die CSU auf keinen Fall dulden wird, wenn deutsche Steuerzahler für ausländische Banken haften müssten. Auch dringt Söder auf mehr Mitbestimmung der Bürger in Europa. Darüber zu sprechen, sei jetzt nicht der Zeitpunkt, entgegnet ihm Merkel — und mancher in der Runde gewinnt den Eindruck, dass die Unterschiede zwischen CDU und CSU in der Europapolitik größer sind als zwischen CDU und SPD.

Auch in den einzelnen Facharbeitsgruppen nähern sich die Fast-Koalitionäre an. Die Arbeitsgruppe Wirtschaft kann ein erstes Verhandlungsergebnis präsentieren. Union und SPD wollen sich auf EU-Ebene für eine koordinierte Wirtschaftsregierung einsetzen, heißt es in einem Eckpunktepapier. "Zentral dafür ist eine stärkere vertiefte wirtschaftspolitische Koordinierung." Der Bundeswirtschaftsminister solle auf europäischer Ebene eine stärkere Rolle spielen. Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und solide Finanzen müssten mit Wachstum und Beschäftigung verbunden werden. "Kernziel ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit." Um unnötige Bürokratie zu vermeiden, haben sich die Wirtschaftspolitiker von Union und SPD dazu verpflichtet, EU-Richtlinien "ausschließlich" eins zu eins umzusetzen. Nationale Sonderwege wären damit obsolet.

Aus der Arbeitsgruppe zur Familienpolitik ist zu hören, dass die Union eine gesetzliche Frauenquote für Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen vor 2020 unterstützen kann, allerdings soll die Quote unter der SPD-Forderung von 40 Prozent liegen. Auch beim umstrittenen flächendeckenden Mindestlohn deutet sich eine Kompromisslösung an: Die Union könnte einen einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde möglicherweise mittragen, wenn eine Kommission mit Vertretern der Tarifpartner Ausnahmen von dieser Regel festlegen dürfte.

(mar / brö /qua)
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