London Der britische Alexis Tsipras

London · Labour hat Jeremy Corbyn heute zum neuen Chef gekürt. Der alt-linke Revoluzzer hat die Partei schon jetzt verändert und ist eine Gefahr für das fragile Gleichgewicht im britischen Parlament. Auch die Tories dürften seinem Triumph mit Skepsis begegnen.

 Jeremy Corbyn ist der neue Chef der britischen Labour-Partei.

Jeremy Corbyn ist der neue Chef der britischen Labour-Partei.

Foto: dpa, fa pt sab

Jeremy Corbyn, der 66-jährige, weißbärtige, stets bescheiden auftretende Unterhausabgeordnete, ist die große Überraschung der politischen Sommersaison im Königreich. Vom Hinterbänkler, den kaum einer kannte, wurde er in Rekordzeit zum Hoffnungsträger. Er hat seine Partei in wenigen Monaten gründlich nach links gerückt und die politische Landschaft in Großbritannien neu definiert.

Fast hätte Corbyn es gar nicht auf die Kandidatenliste für die Vorsitzenden-Wahl geschafft. Mit Müh und Not erreichte er die notwendige Anzahl an Nominierungen, und das auch nur, weil einige Labour-Abgeordnete für eine breite, alle Flügel der Partei umfassende Führungs-Debatte sorgen wollten. Dass der krasse Außenseiter Corbyn, dessen stramm linkem Programm man nicht den Hauch einer Siegeschance einräumte, zum eindeutigen Favoriten wurde, hatte keiner erwartet.

Ein Vegetarier elektrisiert die Basis

Aber der Vegetarier und Anti-Alkoholiker elektrisierte die Basis. Corbyn, der seit 1983 im Unterhaus sitzt und nie eine Führungsposition bekleidete, profilierte sich im dreimonatigen Wahlkampf als der Kandidat gegen das Establishment und sorgte für einen Massenansturm bei Labours Mitgliederzahlen, die seit Mai um 50 Prozent gestiegen sind. Zusätzlich haben sich eine Viertelmillion Briten als "Unterstützer" der Arbeiterpartei registrieren lassen.

Von den jetzt rund 550 000 Wahlberechtigten hat eine Mehrheit für Corbyn gestimmt und damit die Partei langfristig deutlich weiter links positioniert. Für das Partei-Establishment kommt die Entwicklung einem Schock gleich. Wessen Herz für Corbyn und dessen alt-linke Politik schlage, giftete Ex-Premier Tony Blair, "braucht eine Transplantation".

Die Attacke des Ex-Premiers, der von vielen Genossen wegen seiner Lügen im Irak-Krieg gehasst wird, erreichte das Gegenteil und machte Corbyn noch populärer. Andere Parteigranden warnen, dass der neue Chef Labour zu einer britischen Version von Syriza oder Podemos machen werde. Doch es sieht ganz danach aus, als ob die Genossen an der Basis genau das wollen: einen britischen Tsipras, der Labour wieder zu einer sozialistischen Partei macht.

Corbyn verdammt die Austeritätspolitik der konservativen Regierung als "eine Tarnung, um die Gesellschaft umzugestalten und die Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu vergrößern". Der neue Parteichef will eine Streichung von Steuererleichterungen und Subventionen für Unternehmen, erhofft sich sagenhafte 120 Milliarden Pfund (163 Milliarden Euro) Mehreinnahmen durch das Stopfen von Steuerschlupflöchern und will damit einen massiven Anstieg bei den öffentlichen Ausgaben und Investitionen finanzieren. Zugleich plädiert der selbsterklärte demokratische Sozialist für einen Austritt aus der Nato, will britische Atom-Waffen abschaffen, gibt sich als entschiedener Anti-Monarchist und denkt über eine Wiedereinführung der Klausel vier der Parteistatuten nach, die eine Verstaatlichung der Produktionsmittel vorsieht.

Corbyns Opposition gegen die Austeritätspolitik der konservativen Regierung dürfte am meisten Zugkraft im Wahlkampf gehabt haben. 60 Prozent der Labour-Mitglieder denken, dass man die Wahl verloren hatte, weil Labour nicht energisch genug gegen die Sparpolitik opponierte. Doch innerhalb der Gesamtbevölkerung denken das nur 27 Prozent. Labour ist zur Zeit mehr an der ideologisch reinen Lehre interessiert als daran, die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Der Arbeiterpartei droht die Spaltung

Viele in der Labour-Partei denken, dass die Briten, die im Mai überraschend der Konservativen Partei eine absolute Mehrheit bescherten, sich beim nächsten Durchgang von einem noch linkeren Wahlprogramm wohl schon noch umstimmen lassen werden. Das würde allerdings jeder politischen Erfahrung widersprechen. Wahlen werden in der Regel in der Mitte gewonnen, zumindest in Großbritannien. Die Gefahr steht im Raum, dass sich die größte Oppositionspartei auf ein Jahrzehnt hinaus unwählbar macht. Das wäre nicht nur für die Linke im Lande schlecht, sondern für die Demokratie im Königreich insgesamt. Zum einen droht der Arbeiterpartei eine Spaltung, wenn der eher rechte, blairistische Flügel sich mit Corbyn nicht abfinden mag.

Und da braucht der politische Gegner gar nicht zu frohlocken, denn den Konservativen würde eine glaubwürdige Opposition fehlen. Mit Premierminister Cameron unzufriedene Fraktionskollegen würden ermuntert, eine noch schärfere Linie bei den Themen Immigration oder Europa zu fordern. Mit Corbyn als Labour-Chef haben sie da jetzt sogar einen Mitstreiter: Der Alt-Linke wollte nicht ausschließen, beim anstehenden Referendum für einen Austritt aus der EU zu stimmen.

(RP)
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