Japans Atom-Entzug

Vor dem Reaktorunfall von Fukushima produzierten insgesamt 54 AKW-Blöcke rund 30 Prozent des japanischen Stroms – derzeit läuft nur noch einer. Der Preis dafür ist hoch, der Wiedereinstieg geplant.

Tokio/Düsseldorf Als die Not am größten war, bewiesen die Japaner einmal mehr ihre Disziplin: Weil nach dem Reaktorunfall von Fukushima die meisten japanischen Atomkraftwerke zur Überprüfung abgeschaltet wurden, drehten die Menschen die Klimaanlagen in ihren Wohnungen herunter, knipsten jede nicht unbedingt benötigte Lampe aus und zogen sogar den Stecker ihrer geliebten beheizbaren Toilettensitze. Nur so vermied der Inselstaat den Blackout. Doch nun produziert die von Erdbeben und Tsunami monatelang ausgebremste Industrie allmählich wieder auf vollen Touren, und Japan muss sich der Frage stellen: Geht es ganz ohne Atomstrom?

"Na klar", sagt Taro Kono, der schon Atomkraftgegner war, als seine Liberaldemokratische Partei noch regierte und die Nuklearindustrie mit großen Summen förderte. Kono verweist darauf, dass Japan heute praktisch eine atomkraftfreie Zone ist. Soeben ist der vorletzte noch laufende Reaktor planmäßig zur Revision vom Netz gegangen. Jetzt läuft nur noch ein einziger Meiler, ganz oben im Norden auf Hokkaido, und auch der muss im Mai zur Wartung abgeschaltet werden.

Wer hätte das gedacht: Vor Fukushima produzierten insgesamt 54 Reaktorblöcke rund 30 Prozent des japanischen Strombedarfs; jetzt sind es nur noch drei Prozent. Aber was nach einer forschen Energiewende aussieht, ist ein riskanter Parforceritt. Denn die Atom-Lücke muss mit sonst nur für Spitzenlasten eingesetzten Öl- und Gaskraftwerken ausgefüllt werden. Und auch diese Anlagen müssen irgendwann einmal zur Wartung abgeschaltet werden. Problem: Es gibt keine weiteren Reserven. Im Sommer, so befürchten die Experten der Regierung, droht selbst unter optimalen Bedingungen eine Energielücke von fast zehn Prozent.

Deswegen drängt Ministerpräsident Yoshihiko Noda jetzt auf eine Energiewende rückwärts. AKW, die den obligatorischen Sicherheitstest bestanden haben, will er wieder anfahren lassen. Doch neben der Atomaufsicht und dem Wirtschaftsministerium müssen auch die lokalen Behörden zustimmen – und die weigern sich bisher beharrlich. Noda will jetzt persönlich mit den Anwohnern der Atomanlagen reden, um sie von seinem Plan zu überzeugen. Er weiß, dass sein Kurs politisch riskant ist: Zwei Drittel der Japaner wünschen sich nach dem Fukushima-Schock einen Abschied vom bisherigen Atomkurs. Aber Noda sieht keine Alternative.

Denn neben der akut bedrohten Versorgungssicherheit hemmen die explodierenden Kosten für Öl- und Gasimporte die immer noch kränkelnde Volkswirtschaft Nippons. So musste Japan 2011 für Energieimporte auf einen Schlag fast 30 Prozent mehr bezahlen als im Vorjahr. Folge: Erstmals seit der Ölkrise 1980 rutschte die Handelsbilanz tief in die roten Zahlen. Schon vor dem unfreiwilligen Atomausstieg waren Japans Strompreise mit die höchsten in Asien; jetzt haben die Erzeuger obendrein satte Preiserhöhungen um bis zu 17 Prozent angekündigt.

Angesichts solcher Perspektiven wagte Regierungschef Noda es vor zwei Wochen sogar, für die Inbetriebnahme des beinahe fertiggestellten dritten Reaktors des Atomkraftwerks Shimane im Südwesten der Hauptinsel Honshu zu plädieren. Populär ist das im Volk gewiss nicht, aber der befürchtete Aufschrei blieb erst einmal aus. Bei aller Sorge um ihre Sicherheit bleiben die meisten Japaner pragmatisch.

Klar ist, dass der jetzige Zustand unhaltbar ist. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission soll bis zum Sommer Empfehlungen für einen neuen Energiemix vorlegen, doch in dem Gremium reichen die Meinungen von einem völligen Atomausstieg innerhalb von 18 Jahren bis zum Weiterbetrieb aller AKW. Auch Umweltminister Goshi Hosono glaubt, dass sein hochindustrialisiertes Land weiter auf Atomkraft setzen muss. Der Inselstaat Japan könne schließlich nicht wie Deutschland in Nachbarländern Strom zukaufen, betonte Hosono im Gespräch mit unserer Zeitung: "Aber wir können den Umfang der Atomkraft reduzieren."

Im Dezember 2011 hatte bereits eine 45-köpfige japanische Wirtschaftsdelegation Windkraftanlagen in Norddeutschland besichtigt. Der Umstieg auf Ökostrom wird im bergig zerklüfteten Japan, dessen altertümliche Stromnetze bis heute mit zwei verschiedenen Spannungen arbeiten, wohl zur nächsten großen technischen Herausforderung.

Internet Chronik der Atomkatastrophen: www.rp-online.de/panorama

(RP)
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