Berlin Jamaika-Sondierung im November-Regen

Berlin · CDU, CSU, FDP und Grüne tun sich weiter immens schwer und hielten um 17.59 h die Uhr an - bis in die Nacht hinein.

Über Berlin hängen dicke Regenwolken. Als man durch die Glasfront der hell erleuchteten baden-württembergischen Landesvertretung erkennt, dass CDU-Chefin Angela Merkel nun ein Papier in den Händen hält, ist es 16.20 Uhr. Draußen ist es fast dunkel. Die Kanzlerin zieht sich mit ihren Leuten zurück, auch die anderen Parteien beginnen mit internen Beratungen.

An diesem düsteren Novembertag verhandeln Union, FDP und Grüne zunächst in der CDU-Parteizentrale, bevor sie am späten Vormittag in der Landesvertretung Baden-Württembergs am Tiergarten ihre Gespräche fortsetzen. Das Wochenende, an dem eigentlich schon die Parteigremien über ein gemeinsam gefundenes Sondierungsergebnis beraten sollten, ist geprägt von gegenseitigen Angriffen, Rückschritten, Misstrauen, neuen Anläufen und Schuldzuweisungen.

Als härtester Knackpunkt erweist sich die Flüchtlingspolitik und insbesondere die Frage, ob Flüchtlinge, die nur für begrenzte Zeit in Deutschland bleiben dürfen, ihre engsten Angehörigen nachholen dürfen. Als sich CSU-Chef Horst Seehofer gesprächsbereit zeigt, sind es die Liberalen, die sich auf die Bremse stellen. Daraufhin soll der CSU-Chef auch einen Rückzieher gemacht haben, weil er sich von der FDP wiederum nicht "rechts" überholen lassen wolle. Danach werden nur noch "letzte Angebote" über den Tisch gereicht.

Doch die Verhandlungen kommen nur im Krebsgang voran: zwei Schritte vor, einer zurück. Am späten Nachmittag erklärt der CSU-Politiker Hans Michelbach den wartenden Journalisten vor der Landesvertretung, dass die FDP auf voller Umsetzung des CDU/CSU-Regelwerks zur Migration bestehe.

Während der gesamten Zeit der Sondierungen zeigte sich immer wieder ein Muster, das auch an diesem Wochenende durchscheint: CDU und Grüne wollen unbedingt ein Jamaika-Bündnis, während sich bei CSU und Liberalen konstruktive Töne und harte Attacken gegen die Grünen abwechseln. Dann aber zeigen sich die anderen über ein Interview von Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin in der "Bild am Sonntag" verärgert. "Die Differenzen sind fast größer geworden", bescheinigte er seinen Mitstreitern und machte klar, dass die Grünen an ihre "Schmerzgrenze" gegangen seien.

In den dramatischen Stunden gestern Nachmittag hängt alles am Thema Familiennachzug. Wenn dort eine Einigung gelinge, sei diese auch in der Klima-Frage möglich, heißt es aus Verhandler-Kreisen. Andere spekulieren, dass die FDP bei der Migration zu Zugeständnissen bereit sein könnte, wenn sie bei der Bildung und bei den Finanzen mehr erreicht.

Die jüngsten Umfragezahlen haben auch die Sondierer gelesen. Danach würden sich die Wähler nicht sonderlich anders verhalten, wenn sie neu wählen müssten. Also sähen sich die Verhandler im selben Format wieder. Wenn man sich die Alternativen ansehe, dann gelte vor allem eines: "Sich zusammenreißen und was hinbekommen", appelliert CDU-Unterhändlerin Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz. Sie könnte sich auch eine andere Sonntagabend-Beschäftigung vorstellen: "Wir könnten jetzt alle ins Kino gehen", meint sie für den Fall, dass die Beteiligten glaubten, es nicht hinzukriegen.

Während einer langen Beratung im kleinen Kreis der Parteichefs treffen immer mehr Sondierer ein. Armin Laschet etwa, der CDU-Regierungschef aus NRW, der mit FDP-Chef Christian Lindner vor der Sommerpause überraschend geschmeidig ein schwarz-gelbes Bündnis hinbekommen hat. Wird er Lindner beim Soli zu Zugeständnissen bewegen?

Während die kleine Runde läuft, suchen andere das Gespräch. Da stehen die grün-schwarzen Winfried Kretschmann und Thomas Strobl aus Stuttgart mit dem Jamaika-Politiker Robert Habeck (Grüne) aus Kiel zusammen. Sie gestikulieren stark. Die Gesichtszüge verraten, dass im Bund offenbar noch nicht gelungen ist, was sie in den Ländern praktizieren. Der Nachmittag ist geprägt von der Überlegung, es endlich ganz sein zu lassen oder aber für heute Schluss zu machen und sich weitere Zeit zu Beratungen und Verhandlungen zu nehmen. Diese Option schwindet am Abend. Die Grünen kommen der FDP semantisch entgegen. Sie verkünden, die Verhandler hätten um 17.59 Uhr die "Uhr angehalten" - ein Bezug auf die Liberalen, die sich festgelegt hatten, dass um 18 Uhr die Entscheidungen gefallen sein sollten. Draußen wird es 19 Uhr, 20 Uhr, 21 Uhr. Und drinnen wächst die Überzeugung, in dieser Nacht tatsächlich zum Abschluss kommen zu müssen. Keine neue Vertagung mehr.

Allerdings bleibt es kontrovers. Es sei "eng", verlautet aus den Verhandler-Kreisen. Es könne gelingen, aber auch immer noch scheitern. Die Sondierungen seien auch deshalb so schwierig, weil die Grünen ein vorzeigbares, substanzielles und detailliertes Papier für ihren Parteitag haben wollen. Deshalb könnten die letzten Konfliktpunkte, die ansonsten am Ende von Koalitionsverhandlungen stehen, nun alle vorweggenommen werden, so dass es dann mit den eigentlichen Verhandlungen ganz schnell gehen könnte.

(RP)
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