Jahresbericht zur deutschen Einheit "Brauner Spuk" im armen Osten

Die Ost-Beauftragte der Regierung, Iris Gleicke, nimmt den Jahresbericht zur deutschen Einheit zum Anlass für einen dramatischen Appell: Die neuen Länder dürfen nicht den Rechtsextremisten überlassen werden. Eine Analyse.

 Eine Kundgebung in Bautzen. Die Stadt geriet zuletzt wegen Krawallen zwischen Rechten und Asylbewerbern in die Schlagzeilen.

Eine Kundgebung in Bautzen. Die Stadt geriet zuletzt wegen Krawallen zwischen Rechten und Asylbewerbern in die Schlagzeilen.

Foto: dpa, abu fpt

Zur Lage in Ostdeutschland 26 Jahre nach der Einheit findet Iris Gleicke, die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, drastische Worte. Der Rechtsextremismus, sagt die SPD-Politikerin aus Thüringen bei der Vorstellung des Jahresberichts zur Einheit, stelle eine "sehr ernste Bedrohung für die neuen Länder" dar. Sie sei "bestürzt" über die Vielzahl rechtsextremer Übergriffe gegen Flüchtlinge. Das freiwillige Engagement vieler Bürger auch im Osten werde überdeckt und verdunkelt von Neonazis, Fremdenfeinden und Rechtsradikalen. Es sei "mehr als ein einfaches Alarmzeichen", wenn deren Gewalttaten von Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft akzeptiert würden.

Der Jahresbericht zur deutschen Einheit spricht eine eindeutige Sprache: Die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe im vergangenen Jahr, bezogen auf jeweils eine Million Einwohner, lag in Mecklenburg-Vorpommern mit 58,7, in Brandenburg mit 51,9, in Sachsen mit 49,6, in Sachsen-Anhalt mit 42,6, in Berlin mit 37,9 und in Thüringen mit 33,9 Fällen erheblich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder (10,5 Fälle).

"Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden", heißt es im Einheitsbericht. Die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten gegen Flüchtlinge und rechtsextremistischen Agitationsformen würden "zunehmend verschwimmen".

Mangel an industriellen "Leuchttürmen"

Eine Ursache ist die unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder. Stehen geblieben ist ihr Aufholprozess bereits vor etwa zehn Jahren. Seither erreicht ihre Wirtschaftsleistung kaum 70 Prozent des westdeutschen Niveaus. Anschluss finden einige prosperierende Regionen — etwa Berlin-Brandenburg und Leipzig-Halle — allenfalls an die schwächeren Regionen des Westens. Der Aufholprozess wird kaum wieder Fahrt aufnehmen, im Gegenteil, beide Teile Deutschlands driften eher auseinander: Die höhere Produktivität im Westen und seine größeren Wirtschaftseinheiten werfen einfach höhere Wachstumsraten ab.

Die Kleinteiligkeit der Ost-Wirtschaft, ihr Mangel an industriellen "Leuchttürmen" sind gesetzte Parameter, die sich heute kaum mehr verändern lassen: Die Würfel für die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung sind gefallen. Allenfalls die Innovationsschwäche der Ost-Betriebe und ihre mangelnde Internationalität ließen sich durch wirtschaftspolitische Maßnahmen lindern.

Die über Jahrzehnte schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen haben Ostdeutschland ausbluten lassen, die Eliten haben es verlassen. In besonders strukturschwachen Regionen wie in Vorpommern und im Süden Sachsen-Anhalts herrscht eine deprimierende Stimmung. In Gespensterstädten blieben die zurück, die sich anderswo nicht der Konkurrenz um Jobs und Karrieren gewachsen sahen. Sie fühlen sich abgehängt — nicht wenige von ihnen leiten daraus eine Legitimation für ihren Fremdenhass ab.

Soziologen stellen aber auch fest, dass der Fremdenhass längst nicht nur die Schwächeren infiziert, sondern zunehmend besser verdienende Mittelschichtler, deren Angst vor einem Statusverlust wächst. Die Flüchtlingskrise hat diese Ängste, die in Ostdeutschland stärker sind, weil viele in den vergangenen 26 Jahren schwierige Umbrüche zu überwinden hatten, offener zutage treten lassen.

Fremdenhass "nicht allein ein Problem des Ostens"

Dass Ostdeutschland eine Hochburg des Rechtsextremismus ist, blieb dem Ausland nicht verborgen, wie Iris Gleicke berichtet. Zuletzt bei einer Japan-Reise sei ihr wieder die Frage gestellt worden, ob japanische Ingenieure ihres Lebens sicher sein könnten, wenn sie nach Ostdeutschland kämen. Es sei verständlich, wenn jemand, "der anders aussieht als blond und blauäugig", skeptisch gegenüber Ostdeutschland eingestellt sei, sagt Gleicke. Die Fremdenfeindlichkeit entwickelt sich zum Standortnachteil für die neuen Länder. Auslandsinvestoren können nur noch schwer überzeugt werden.

In ostdeutschen Landesregierungen müssten angesichts dieser Entwicklungen sowieso längst die Alarmglocken schrillen. Die Ost-Regierungschefs finden auch mittlerweile keine verharmlosenden Worte mehr, doch die eigene Verantwortung wird weiterhin gerne kleinergeredet, als sie ist — und mit dem Finger auf den Bund gezeigt. Bei der Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge im letzten Jahr habe es einen zeitweisen Kontrollverlust der Bundesbehörden gegeben, sagt etwa Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). "Angesichts dessen sind Ängste in Teilen der Bevölkerung verständlich. Rechtsextremisten versuchen, aus einer solchen Situation Kapital zu schlagen." Aber Rechtsextremismus und Fremdenhass seien "nicht allein ein Problem des Ostens".

Mehr Investitionen etwa in Bildung notwendig

"Eine einseitige Fokussierung auf die Zunahme von rechtsextremen Übergriffen in Ostdeutschland wird der Situation nicht gerecht", warnt auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Sein Kollege Erwin Sellering (SPD) aus Mecklenburg-Vorpommern stößt ins gleiche Horn: "Ich warne davor, Rechtsextremismus als spezifisch ostdeutsches Problem abzutun." Es gebe in ganz Deutschland rechtsextreme Einstellungen, Straftaten und Wahlerfolge von Parteien, die weit rechts außen stünden.

Die Gefahr dieser Haltung ist, dass die Ost-Länder auch künftig zu wenig gegen ihren grassierenden Rechtsextremismus tun. Mehr Investitionen der Länder in Bildung, Sozialarbeiter, Vereine, Polizei und Justiz wären notwendig, damit der Rechtsstaat den Kampf mit den Verfassungsfeinden auch in entvölkerten Regionen aufnehmen kann. Wenn 2019 der Solidarpakt für Ostdeutschland ausläuft, werden die Länder einen finanziellen Ersatz erhalten müssen, um diese für ganz Deutschland wichtige Aufgabe meistern zu können.

(mar)
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