Analyse Italien – Kabinett der Hoffnungsträger

Rom · Mit Enrico Letta hat Italien einen der jüngsten Ministerpräsidenten in der Geschichte des Landes vereidigt. Der monatelange politische Stillstand scheint beendet – wenn der Streit um Silvio Berlusconi das Bündnis nicht sprengt.

Mit Enrico Letta hat Italien einen der jüngsten Ministerpräsidenten in der Geschichte des Landes vereidigt. Der monatelange politische Stillstand scheint beendet — wenn der Streit um Silvio Berlusconi das Bündnis nicht sprengt.

Es sollte der Tag der Rückkehr zur Normalität werden. Zwei Monate nach der Parlamentswahl Ende Februar leistete die neue italienische Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta (46) gestern in Rom ihren Amtseid. Doch die feierliche Zeremonie am Vormittag im Quirinalspalast, dem Sitz des Staatspräsidenten, geriet zum Nebenschauplatz. Der Premier und alle 21 Minister hatten soeben ihre Treue zur Verfassung geschworen, da verbreitete sich die Nachricht von einer Schießerei, die sich nur wenige Hundert Meter vom Quirinal entfernt ereignet hatte.

Das, was sich in Roms Machtzentrum an Aufbruchstimmung verbreitet hatte, löste sich so rasch in Unsicherheit auf. Trotzdem fand die formale Amtsübergabe durch Ex-Ministerpräsident Mario Monti an Enrico Letta wenig später im Palazzo Chigi statt. Dort kam auch das Kabinett zu einer ersten Sitzung zusammen. Angesichts der komplizierten innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage kann man die Zusammensetzung der von der linksgerichteten Demokratischen Partei (PD), der Berlusconi-Bewegung "Volk der Freiheit" (PdL) und Mario Montis "Bürgerwahl" (SC) getragenen Regierung als gelungen bezeichnen. Wohin ihr gemeinsamer Weg führen wird, ist freilich kaum vorherzusagen.

Sieben der 21 Minister sind Frauen, darunter die in Goch am Niederrhein geborene Kanutin und achtfache Olympia-Teilnehmerin Josefa Idem (PD), die Ministerin für Gleichberechtigung und Sport wird. Als erste farbige Ministerin erregte auch die aus dem Kongo stammende Ministerin für Integration, Cécile Kyenge, Aufsehen. Das Durchschnittsalter der 64. Nachkriegsregierung ist mit 53 Jahren für Italien sehr niedrig. Eher traditionell mutet hingegen an, dass besonders viele Regierungsmitglieder christdemokratische Wurzeln haben und katholisch sind. Doch es sind in erster Linie andere Faktoren, die zuversichtlich machen.

Da ist zum einen Premier Enrico Letta. Er ist mit 46 Jahren eine Ausnahmepersönlichkeit der italienischen Politik und als kluger Vermittler bekannt. Der ehemalige Christdemokrat, Vizeparteichef der kriselnden Mitte-links-Partei PD, ist ein Mann der leisen Töne, der den Kompromiss sucht und keine Scheu vor politischen Gegnern hat. Sein Augenmerk gilt dem Wirtschaftsaufschwung ebenso wie sozialen Problematiken. Bei dem von ihm mitorganisierten jährlichen Elitetreffen "Vedrò" kam er bereits häufig mit seinem neuen Vizepremier Angelino Alfano (PdL) zusammen. Die Chemie zwischen den beiden stimmt offenbar.

Mit Letta und Berlusconi-Intimus Alfano, dem neuen Innenminister, sind nur zwei Spitzenexponenten einer langjährigen und derzeit in Italien sehr kritisch beurteilten Politiker-Garde Mitglieder der Regierung. Alfano hat einen angekratzten Ruf, seit er als Justizminister unter Berlusconi für seinen damaligen Chef ein Immunitätsgesetz ("Lodo Alfano") entwarf, das später für verfassungswidrig erklärt wurde. Letta nannte Berlusconi im Wahlkampf noch eine "biblische Plage". Soll die Regierung länger als ein paar Monate dauern, gilt es, diesen Kontrast zu ignorieren. Jedes Urteil, jeder Passus in den Gerichtsverhandlungen Berlusconis wird die Regierung auf eine Belastungsprobe stellen. Wie wird Letta oder die Justizministerin Annamaria Cancellieri auf ein letztinstanzliches Urteil gegen Berlusconi reagieren?

Wenn die neue Regierung sich nicht im Streit um den Ex-Premier aufreibt, hat sie gute Chancen, mehr als eine Formalität zu sein. Die vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Notstand vorgegebene, moralisch höchst unangenehme Maxime für die neue Exekutive lautet: Berlusconi ausblenden, um Italien voranzubringen. Es ist in diesem Zusammenhang immerhin ein gutes Zeichen, dass keiner der umstrittenen Ex-Ministerpräsidenten Mitglied der Regierung wurde. Weder Berlusconi (PdL) noch Mario Monti (SC) oder Massimo D'Alema (PD) fanden Berücksichtigung. Vor allem Berlusconi wird aber im Hintergrund Regie führen, auch weil die Mitte-links-Partei PD in schwere Grabenkämpfe verstrickt ist und deshalb nicht als zuverlässig gelten kann. Mario Montis Partei ist nur ein kleiner Faktor in der machtpolitischen Gemengelage. Letta wies in Abstimmung mit Staatspräsident Giorgio Napolitano die Schlüsselressorts angesehenen Persönlichkeiten zu, die entweder in keiner Partei Mitglied sind oder parteiübergreifendes Ansehen haben.

Außenministerin wurde die 65 Jahre alte Emma Bonino (Radikale Partei), die als Abtreibungsbefürworterin bekannt wurde und für ihr kompromissloses Eintreten für Freiheitsrechte renommiert ist. Von 1995 bis 1999 war sie EU-Kommissarin für Verbraucherschutz. Bonino genießt links und rechts, aber auch bei Beppe Grillos Protestpartei "Fünf-Sterne-Bewegung" Respekt.

Minister für Wirtschaft und Finanzen ist der parteilose Fabrizio Saccomanni (70). Er war bislang Generaldirektor der italienischen Notenbank, gilt als enger Vertrauter von Mario Draghi, dem Chef der Europäischen Zentralbank, und ist zudem erklärter Unterstützer der Sparpolitik des früheren Ministerpräsidenten Mario Monti. Ihm muss der Spagat gelingen, den Sparkurs weiterzuverfolgen und trotzdem für Wachstum zu sorgen. Justizministerin wird Annamaria Cancellieri (69), die in der Vorgängerregierung erfolgreich das Innenressort leitete und vom Antimafia-Kämpfer Roberto Saviano gelobt wurde.

Das von Letta vereidigte Regierungspersonal ist ein gutes Signal. Jetzt muss sich zeigen, wie das Team die vielen Klippen in Finanz-, Wirtschafts- und Europapolitik umschifft. Niemand macht sich Illusionen, dass die erste wirkliche große Koalition der italienischen Nachkriegsgeschichte eine ganze Legislaturperiode dauern könnte. In 67 Jahren brachte es Italien auf 62 Regierungen.

(RP/gre)
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