Neu-Delhi Indiens Opfer schlagen zurück

Neu-Delhi · In Neu-Delhi werden Strafen gegen Vergewaltiger verschärft. Viele Frauen glauben nicht an die Wirkung - und lernen, sich selbst zu verteidigen.

Vandana Sonkhar möchte nicht wie Nirbhaya enden - die Studentin, die im Dezember 2012 in einem Bus in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi von sechs Männern vergewaltigt und mit einer Eisenstange missbraucht wurde. Sie starb 13 Tage später. Seitdem sie ums Leben kam, lernen immer mehr Inderinnen, sich zu verteidigen. "Lieber würde ich selbst töten, als vergewaltigt und getötet zu werden", sagt Vandana. Dann packt sie die Angreiferin mit dem Messer, dreht ihr die Waffe aus der Hand und hält ihr die Klinge an die Kehle. Vandana besucht regelmäßig einen Selbstverteidigungskursus - aus gutem Grund.

Alle 22 Minuten wird in Indien, dem 1,2-Milliarden-Einwohner-Staat, eine Frau vergewaltigt. Die Dunkelziffer soll um ein Vielfaches höher liegen. Statistiken zufolge ereignen sich etwa 95 Prozent der Vergewaltigungen innerhalb von Familien oder im Freundes- und Bekanntenkreis.

Im Mai ging das Bild von zwei Cousinen, die an einem Mangobaum hingen, um die Welt. Fünf Männer hatten die zwölf und 14 Jahre alten Inderinnen vergewaltigt und gehängt. Das abscheuliche Verbrechen ist kein Einzelfall. In einer Befragung des amerikanischen "International Center for Research on Women" aus dem Jahr 2012 gaben 73 Prozent aller in Neu-Delhi befragten Frauen und Mädchen an, dass sie in ihrer Umgebung sexueller Gewalt ausgesetzt seien.

Auch Vandana hatte Angst, eine weitere Zahl in der Vergewaltigungsstatistik zu werden. Doch mittlerweile müssen die Täter eher Angst vor ihr haben. Mit einem Mann, der sie wochenlang telefonisch sexuell belästigt hatte, verabredete die Studentin sich auf einem Markt. Was der Stalker nicht wusste: Vandana hatte 50 Mädchen mitgebracht. "Ich habe dem Typen gesagt: ,Ich könnte deine Tochter sein. Schäm dich!' Dann habe ich ihm eine gescheuert", berichtet die Studentin.

Damit hatte der etwa 50-Jährige noch Glück, denn im Selbstverteidigungskursus, der von der Hilfsorganisation "World Vision" und der indischen Polizei angeboten wird, hat Vandana auch fiesere Techniken gelernt: Dem Angreifer mit einer Haarnadel ins Auge zu stechen, ihn mit einem Schal zu strangulieren, ihm Rippen und Schlüsselbein zu brechen oder ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen. Die Trainer nennen die Stelle den "Hauptpunkt". "Es soll dem Mann so sehr wehtun, dass er nie mehr auf die Idee kommt, ein Mädchen anzugreifen", sagt Vandana.

Eine christliche Hilfsorganisation, die Mädchen beibringt, Männer schwer zu verletzen - ist das nicht ein Widerspruch? "Nein", findet World-Vision-Sozialarbeiterin Shiny Matthews, die die Mädchen beim Selbstverteidigungskursus begleitete. "Wenn die Mädchen angegriffen werden, müssen sie sich wehren, dann ist Gewalt legitim", sagt die gläubige Christin.

Vier der sechs Männer, die Nirbhaya im Bus vergewaltigten, wurden zum Tode verurteilt. Doch die meisten Täter werden gar nicht erst angezeigt. Zwar verabschiedete das Parlament kurz nach dem Verbrechen verschärfte Gesetze, aber die Gerichtsverfahren ziehen sich meist über Jahre hin, oft werden die Opfer währenddessen massiv bedrängt. So wurde eine 16-jährige Schülerin aus Kalkutta, die zweimal von einer Bande vergewaltigt wurde und die Verbrechen anzeigte, von den Familien der Täter so stark unter Druck gesetzt, dass sie sich schließlich selbst anzündete. Ihr letzter Satz: "Wir sind Frauen. Es gibt keine Zukunft für uns."

Seitdem über das einst tabuisierte Thema gesprochen wird, boomt das Geschäft mit der Angst. Die Waffenfabrik "Indian Ordnance Factories" stellt einen Damenrevolver her. Die umgerechnet rund 1500 Euro teure Waffe passt nach Herstellerangaben in jede Handtasche und wird wie ein Schmuckstück in einer mit Samt ausgeschlagenen Schatulle angeboten. Der Verkauf von Pfefferspray stieg seit dem Verbrechen von 2012 sprunghaft an.

Auch die 14-jährige Tochter der Frau, die in der Zeitung Murghi heißen möchte, besucht einen Karatekursus. Ihre Mutter hingegen hat erst spät gelernt, sich zu wehren. Zu spät. Mit 16 Jahren wurde sie verheiratet, seitdem zwang ihr Mann sie zum Sex. Doch Murghi brachte "nur" Mädchen zur Welt. In einem Land, in dem noch immer ungeborene Mädchen illegal abgetrieben und weibliche Babys getötet werden, war dies für die Mutter fast ihr Todesurteil. Monatelang sperrte ihr Mann sie in einen Verschlag. Ohne Licht, ohne Toilette, ohne fließendes Wasser. Einmal schlug er seine Frau mit dem Kopf gegen die Wand. Als Murghi ins Krankenhaus ging und sagte, dass ihr eigener Mann sie verletzt habe, wollte kein Arzt sie behandeln. Erst als ihr wieder "einfiel", dass sie gestürzt sei, wurde ihr geholfen.

Auch Murghi besucht regelmäßig das Crisis Intervention Center. Das Wort "Opfer" fällt hier nur selten. Frauen, die vergewaltigt wurden, heißen "Überlebende sexueller Gewalt". Das soll ihre Stärke in den Vordergrund stellen. Auch Murghi nennt sich mittlerweile stolz "Überlebende".

(RP)
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