Neu Delhi/Mumbai Indien versinkt im Müll

Neu Delhi/Mumbai · Indiens Bevölkerung wächst – und mit ihr die Abfallberge. Die Straßen sind verdreckt, die Flüsse verseucht. Der Staat versagt.

Indiens Bevölkerung wächst — und mit ihr die Abfallberge. Die Straßen sind verdreckt, die Flüsse verseucht. Der Staat versagt.

Sneha Jain wirkt an diesem Ort wie ein Fremdkörper. Die junge Frau trägt ein enges schwarzes Kostüm, eine helle Bluse und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie riecht gut - und auch das ist hier ungewöhnlich. Es stinkt. Die Straße vor dem Gebäude in Neu Delhi ist übersäht mit Müll und Fäkalien. Vor den Hauseingängen türmt sich der Dreck. Sneha Jain muss jeden Tag durch den Dreck. Mit den Schuhen?

Sie sitzt in einem kleinen Besprechungsraum und lächelt. Dann fragt sie, wie man in Deutschland den Müll trennt. Nun ja, es gibt eine Tonne für Restmüll, eine für Kompost und eine für Papier und Pappe. Dann gibt es Säcke für Plastik und Wertstoffe, Container für weißes, grünes und braunes Glas, kleine Boxen, in denen man Batterien entsorgen kann, Wertstoffhöfe, zu denen man Bauschutt, Sperrmüll und Elektrogeräte bringen kann.

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Foto: Florian Rinke

Die junge Frau hört geduldig zu, dann sagt sie: "Die Menschen in Indien wissen inzwischen, was Recycling ist. Sie wissen nicht, wie es funktioniert, aber sie wissen, dass es existiert." Für sie ist das ein Erfolg - und wenn man sich an die Straße erinnert, weiß man wieso.

9000 Tonnen Müll entstünden allein jeden Tag in der indischen Hauptstadt Neu Delhi, sagt Sneha Jain: Papier, Plastik, Speisereste, Bauschutt. Jain arbeitet für Pom Pom, ein junges Unternehmen, das mit Recycling Geld verdient. Per App kann man Pom Pom buchen, das Unternehmen sammelt dann den Müll auf, recycelt ihn - und gibt einen Teil des Gewinns sogar an den Kunden zurück. Acht Rupien, umgerechnet knapp elf Cent, gibt es für ein Kilogramm Plastik, zehn für Metall (14 Cent). 400 Tonnen Müll sammelt Pom Pom täglich. Doch das reicht nicht mal ansatzweise, um die Abfallmassen zu bekämpfen. Überall in Neu Delhi häuft sich der Müll. Gegenüber des Hauses wühlen sich streunende Hunde durch Speisereste, einige Straßenzüge weiter sind es Schweine. Neben ihnen schmeißen Kinder Plastik in ein Feuer und springen um die Flammen herum. Schwarzer Rauch steigt auf, doch den Kindern ist es egal.

Kaum jemandem scheint es hier etwas auszumachen, dass das Land im Müll erstickt: Die Straßen sind übersäht von Abfällen, auf Flüssen bilden sich weiße Schaumkronen, und die Luft in den Großstädten ist trüb vom Smog. "Es gibt in Indien kein staatliches Müll-Management-System", sagt Sneha Jain: "Die Leute wissen daher nicht, was sie mit ihrem Müll machen sollen." Also landet er auf der Straße, egal ob man in Delhi, Kalkutta oder Mumbai ist. Er stapelt sich, stinkt und irgendwann landet er bei Frauen wie Anita und Rukmini.

Die Frauen hocken zwischen Bergen von Müll am Straßenrand in Mumbai. Mit rund 18 Millionen Einwohnern ist die Metropolregion im Westen die größte des Landes - was sich an den Müllbergen ablesen lässt. Anita und Rukmini sind Müll-Sammlerinnen, so wie Generationen von Frauen vor ihnen.

In Indien sammeln die Menschen schon seit Jahrhunderten Müll: Im 17. Jahrhundert waren es Knochen, Lumpen und Papier, heute sind es Plastik, Metall und Elektroschrott. Eines ist gleich geblieben: Das Sammeln und Sortieren ist Aufgabe der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht, der sogenannten Unberührbaren - und da vor allem der Frauen.

Auch heute noch sind sie es, die an den Straßenrändern hocken und mit den Fingern Speisereste und Plastikmüll durchwühlen. Sie sind es, die mit Steinen das Metall aus weggeworfenen Radios herausbrechen oder Cola-Dosen pressen und in Beuteln verstauen. Laut der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit arbeitet ein Prozent der städtischen Bevölkerung in Indien im informellen Recycling-Geschäft.

Anita ist eine davon. Sie stapelt Pappkartons, stopft sie in einen Plastiksack und knotet diesen zu. Jeden Morgen macht sie sich zusammen mit anderen Frauen auf den Weg, um neue "Ware" zu holen. Es gibt vier Halden in Mumbai, auf denen der Müll landet. Vögel kreisen über den gewaltigen Müllbergen. Hier ist die Ware für Frauen wie Anita, betreten dürfen sie die Müllhalde jedoch nicht - das dürfen nur die Mitarbeiter eines Privatunternehmens. Von ihm müssen die Frauen den Müll kaufen, dann sortieren sie ihn und verkaufen die Beutel weiter an Mittelsmänner, die den sortierten Abfall wiederum zu Geld machen, indem sie die werthaltigen Materialien wie Kupfer, Plastik und Ähnliches weiterverkaufen.

300 Rupien verdient Anita so pro Tag, knapp vier Euro. Es reicht, um sich Essen zu kaufen. Das war's. Fragt man sie nach ihren Träumen, lächelt sie, versteht die Frage aber nicht. Wovon soll sie noch träumen? Fragt man sie, ob ihr der Job Spaß macht, sagt sie ja. Ein bisschen Rückenschmerzen, Knieprobleme, aber alles in allem sei alles gut.

Gern gesehen sind Frauen wie Anita jedoch nicht - selbst die Polizei verscheucht sie hin und wieder. Niemand möchte, dass der Müll vor seiner Haustür sortiert wird. "Alles, was die Müll-Sammler nicht brauchen, lassen sie liegen", sagt Sneha Jain von Pom Pom. Sie sagt es nicht anklagend. So ist das halt.

Doch in den vergangen Jahren hat sich etwas verändert: Waren es früher vor allem kompostierbare Speisereste, die weggeworfen wurden, ist es inzwischen immer mehr Plastik - und das verrottet nicht so leicht. "Plastik ist der Umweltfeind Nummer 1", sagt Sunita Narain.

Die Umweltschützerin leitet das "Centre for Science and Environment" in Neu Delhi und kämpft seit Jahren gegen die Müll-Probleme. Sie sitzt in einem kleinen Büro, vor dem Haus wachsen Bäume - eine kleine Oase. Alle paar Minuten donnern Flugzeuge über das Haus hinweg, doch Sunita Narain ist so in Rage, dass sie sie kaum bemerkt: "Wir werden reicher und wir werden mehr Müll produzieren. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen." Wurden 2008 noch 48 Millionen Tonnen Müll produziert, waren es 2016 bereits 52 Millionen Tonnen. Die Zahlen hat Narain zusammengetragen. Es sind die verlässlichsten statistischen Werte, die sie finden konnte.

Zum Vergleich: In Deutschland fielen 2015 laut Statistischem Bundesamt rund 37 Millionen Tonnen allein an Haushaltsabfällen an - bei einer Bevölkerung von knapp 81 Millionen Menschen. In Indien leben jedoch knapp 1,3 Milliarden Menschen. Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu begreifen, was ein Anstieg des Pro-Kopf-Verbrauchs beim Müll auf europäisches Niveau für ein Land wie Indien bedeuten würde. "Wenn Indien sein Müll-Problem in den Griff bekommen will, müssen wir recyceln und den Müll weiterverwerten", sagt Sunita Narain daher. Denn der Müll sorge auch für gesundheitliche Probleme: "In einer unsauberen Umwelt gibt es auch mehr Moskitos und damit mehr Seuchen."

Doch es gibt auch noch ein anderes Problem durch den Müll. "Für die Menschen ist es leichter ein Auto zu kaufen als einen Parkplatz zu finden", sagt Ashok Datar. Er leitet das Mumbai Environmental Social Network, eine Organisation, die sich in der Millionenstadt für einen Kulturwandel bei Umweltfragen einsetzt. Der Müll verstopfe die wenigen freien Flächen, die es überhaupt noch in der Stadt gebe. "Aktuell haben wir nur zwei Quadratmeter öffentlichen Raum pro Einwohner, das ist in anderen Großstädten anders."

In Datars Viertel hat die Initiative daher zuletzt eine der wenigen freien Flächen vom Müll befreit. Statt Müllbergen gibt es dort nun Rutschen, Schaukeln und Klettergerüste. Früher mieden die Menschen diesen Platz, an dem sich viele Drogenabhängige aufhielten. Nun spielen dutzende Kinder auf dem öffentlichen Spielplatz, dem einzigen dieser Art in der Gegend. "Die Politiker fördern lieber Prestigeprojekte - Stadien oder Konzerthallen - als das Geld in die Basisarbeit zu stecken", sagt der Ökonom. Dabei könne man auch mit kleinen Dingen schon so viel bewirken.

(frin)
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