Rio In Rio eskaliert die Gewalt

Rio · Ein Jahr vor den Olympischen Spielen gerät die Lage in Brasiliens Metropole außer Kontrolle. Jugendgangs terrorisieren die Wohlhabenden - die nehmen nun das Gesetz selbst in die Hand.

de Janeiro Alles geht blitzschnell, die Hände greifen nur einmal zu - und schon ist das neue Smartphone gepackt. Die Szene eines alltäglichen Überfalls am Strand von Rio de Janeiro, die ein Fotograf der Tageszeitung "O Globo" in allen Details festgehalten hat, bewegt die Menschen in der Olympiastadt. Denn der Moment des Überfalls, eine Zehntelsekunde nur, birgt all jenen sozialen Sprengstoff, der ein knappes Jahr vor den Olympischen Spielen die Stimmung in dieser Stadt explodieren zu lassen droht. Es ist ein Kampf auf Rios Straßen und an seinen Stränden. Ein Kampf zwischen Reich und Arm, zwischen Weiß und Schwarz. Und er eskaliert jedes Wochenende ein bisschen mehr.

Rios Jugendgangs, überwiegend aus dunkelhäutigen Jungen aus den bettelarmen und benachteiligten Favelas bestehend, kommen aus dem Norden der Stadt. Meist, so behaupten zumindest ihre Opfer, nehmen sie den Bus. Dann suchen sie sich gezielt ihre Opfer aus, stürmen an die Strände, in die Shopping-Center oder die Einkaufsstraßen und reißen alles an sich, was sie in diesen wenigen Sekunden ihrer Beutezüge zu fassen bekommen. Mal sind es Halsketten, mal Geldbörsen, mal eben Handys. Weil die bewaffneten Kinder und Jugendlichen gleich im Dutzend wie ein Flashmob auftreten, ist eine wirksame Gegenwehr kaum möglich und obendrein lebensgefährlich.

Rios wohlhabende Bewohner sind schockiert und fühlen sich alleingelassen. Nun nehmen sie das Gesetz selbst in die Hand und haben eine Art Bürgerwehr gegründet. Sie nennen sich "Justiceiros" ("Gerechtigkeitsliebende"), die wiederum selbst Jagd auf die Gangs machen. Dabei kommt es zum Teil zu erschütternden Jagdszenen auf den Straßen, die vor allem einen Zweck haben: einzuschüchtern.

Die selbsternannten Sheriffs dulden nicht den Aufenthalt der Armen an "ihren Stränden" oder in ihren vornehmen Vierteln. Inzwischen ist die Stimmung so aufgeladen, dass die Polizei in den Bussen, die in den wohlhabenden Süden fahren, Razzien durchführt.

Auf Druck der einflussreichen wohlhabenden Bevölkerung der Sechs-Millionen-Metropole werden nun einige Buslinien vor der Endstation gestoppt oder umgeleitet. So sollen die Raubzüge der Jugendgangs im Zentrum zumindest erschwert werden. Betroffen sind unter anderem drei Buslinien, die aus den sozialen Brennpunkten an die Traumstrände Leme und Ipanema fahren. Unter der Maßnahme leiden allerdings die Menschen, die mit diesen Bussen zur Arbeit fahren müssen. Antonio da Costa, einer der prominentesten Menschenrechtler und Gründer der Nichtregierungsorganisation "Rio de Paz" ("Friedensfluss"), sagt: "Das Verhalten von Teilen der Mittelschicht kann zu einem Bruch mit den Bewohnern der Favelas führen. Mit unabsehbaren Konsequenzen."

Unterdessen bekommt die Auseinandersetzung zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd auch eine ideologische Note. Denn gewaltbereite Gruppen aus der linksradikalen Szene haben sich inzwischen mit den Jugendgangs solidarisiert und erklären nun ihrerseits der Bürgerwehr den Krieg. Vor allem an den Wochenenden, wenn die Strände voll sind, wächst das Misstrauen. Der Soziologe Ignácio Cano von der Universität des Bundesstaats Rio de Janeiro befürchtet eine Eskalation: "Nicht nur die kriminellen Gangs könnten aufrüsten. Auch die, die noch nie eine Waffe in der Hand gehabt oder ein Verbrechen begangen haben, könnten den Eindruck gewinnen, es sei besser, sich zu bewaffnen."

Die gesellschaftliche Konfrontation ist das Ergebnis einer verfehlten Sozialpolitik von Stadt, Bundesstaat und nationaler Regierung, die alle die Schuld auf die jeweils andere Instanz schieben. Zwar hat die linksgerichtete Arbeiterpartei von Präsidentin Dilma Rousseff bereits vor Jahren erste Sozialprogramme aufgelegt, die die Lebenssituation der sozial schwachen Bevölkerung verbessert haben. Doch eine wirkliche Perspektive haben die Kinder aus den Elendsvierteln auch unter Rousseff nicht bekommen. Es fehlt an einer nachhaltigen Bildungspolitik, an einer Sozialpolitik, die nicht nur fördert, sondern auch fordert.

Ob diese allerdings angesichts der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, die das Land heimsucht, überhaupt noch finanziert werden kann, ist fraglich. Für das Klima auf Rios Straßen bedeutet das nichts Gutes, ein Jahr vor Olympia.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort