Analyse In Europa droht eine neue Radikalisierung der Kurden

Berlin · Rund eine Million kurdischstämmige Menschen blicken in Deutschland darauf, ob und wie der Westen den islamistischen Terror in Syrien stoppt.

Tote bei Ausschreitungen in der Türkei
6 Bilder

Tote bei Ausschreitungen in der Türkei

6 Bilder

Die Nachrichten vom Vorrücken der islamistischen Terrormiliz IS im syrisch-türkischen Grenzgebiet treiben Kurden auch in vielen deutschen Städten seit Montagabend auf die Straße. Hunderte Demonstranten versammelten sich in Düsseldorf vor dem WDR und in Bonn vor der Deutschen Welle, übergaben den Senderverantwortlichen Resolutionen, und auch in Berlin, Hamburg, Dortmund, Hannover, Stuttgart, Bremen, Freiburg, Göttingen und Herford formierten sich Protestzüge.

Es sind nicht allein die Fernsehbilder von den schwarzen Fahnen des "Islamischen Staates" über Stadtvierteln der bislang kurdisch verwalteten Grenzstadt Kobane, die motivierend wirken. Im Vordergrund stehen Berichte von Gräueltaten unvorstellbarer Brutalität aus den schon vom IS beherrschten Regionen. Sie lassen bei vielen Menschen mit kurdischen Wurzeln Angst um Angehörige, Freunde und Bekannte ganz konkret werden.

In ihren Gefühlen können sich die Kurden grundsätzlich auch von der Koalition in Berlin verstanden fühlen. "Man muss sich wirklich fragen, ob alles getan wird, um diese Leute zu bekämpfen", sagt Unionsfraktionschef Volker Kauder. Schon lange handele es sich nicht mehr um eine regionale Auseinandersetzung, sonden "um eine weltweite Bedrohung", erklärte Kauder gestern zu Beginn einer Sitzung seiner Regierungsfraktion. Hier müsse sich die internationale Gemeinschaft zum Handeln durchringen.

Doch die rund eine Million Menschen mit kurdischen Wurzeln in Deutschland registrieren sehr genau, wie die Bundesregierung fein säuberlich trennt zwischen den im Nordirak und den in Nordsyrien vom IS verfolgten Kurden. Die einen bekommen deutsche Waffen und deutsche Ausbildung, die anderen nicht viel mehr als warme Worte.

Das hängt mit den komplizierten Verflechtungen in der Region und mit der Rücksicht auf Nato-Partner Türkei zusammen. Während Ankara zu den Kurden im Nordirak vertrauensvolle Kontakte pflegt, fürchtet Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Erstarken der verbotenen kurdischen PKK in der Türkei, wenn die mit ihr verbundene kurdische PYD in Syrien einen funktionierenden Staat im Staate errichtet.

Bei den Demonstrationen in deutschen Städten wurden nicht nur Rufe laut, das drohende Massaker an kurdischen Kindern, Frauen und Männern in Sichtweite der Nato-Grenze endlich zur Kenntnis zu nehmen. Die Aktivisten schwangen auch Fahnen mit dem Portrait des seit 15 Jahren inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan.

Das zeigt, welche Bedeutung die Entwicklung in Syrien auch für den inneren Frieden in Europa hat. Seit Öcalan den Friedensprozess mit Erdogan ausrief, gingen die PKK-Gewalttaten in der Türkei selbst und auch in Europa deutlich zurück. Nun hat Öcalan damit gedroht, diesen Frieden für beendet zu erklären, falls die Türkei zuschaue, wie die Kurden in Syrien vom "Islamischen Staat" ermordet werden.

Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes blieb die seit 1993 in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegte PKK in der Lage, "bei bestimmten emotionalisierenden Ereignissen ihre Anhängerschaft auch kurzfristig zu mobilisieren". Sie zeichne sich weiterhin durch ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt aus. 13 000 PKK-Anhänger könnten "ein Vielfaches an Mobilisierungspotenzial" aktivieren.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort