Kolumne Gott Und Die Welt Im Internet sind wir immer Täter und Opfer zugleich

Wir füttern unbekümmert das Netz mit persönlichen Daten und freuen uns wie Schneekönige, auf fremde Daten zugreifen zu können. Wir sind Überwacher und Überwachte - das ist das Perfide.

Wenn Gurus beginnen, nachdenklich zu werden und an ihre Taten und Predigten von einst vernehmlich rumzweifeln, sollte man wahrscheinlich der Bewegung den Rücken kehren. Sollten wir darum so im Laufe des Tages das Internet abschalten? Denn seit einiger Zeit verkündet der US-Amerikaner Jaron Lanier - einer der Entwickler des Internets und der Schöpfer digitaler Welten -, dass wir die Kontrolle über unsere persönlichen Daten und wahrscheinlich auch über uns dank seiner Schöpfung verloren hätten und es deshalb an der Zeit sei, zu akzeptieren, dass das Ideal der Offenheit gescheitert ist.

Dann suchen wir jetzt wohl besser den Knopf zum Ausschalten. Die Absurdität eines solchen Vorschlags liegt nicht in der Willensbekundung, sondern in der Aussichtslosigkeit und unserer Machtlosigkeit. Wir haben nicht nur den Einfluss über unsere Daten verloren, sondern auch übers Netz. Der Versuch, das meiste rückgängig zu machen, ist schon deshalb lachhaft, da wir es gar nicht wollen - obwohl wir über die Gefahren der Überwachung, unserer kommerziellen Ausnutzung und unserer Abhängigkeit bestens informiert und aufgeklärt sind. Und das ist das eigentlich Gemeine des Netzes, dass wir immer die Beute und auch die Spinne sind.

Wir haben lange Zeit George Orwells Roman "1984" als Inbegriff einer literarischen Prophetie gelesen. Der Autor, so schien es uns, hat das alles früh vorausgesehen oder geahnt. Doch stimmt das nur zum Teil. Weil Orwell eben nicht mit der Klugheit neuer Systeme gerechnet hat. Die besteht nicht darin, supergeheime Überwachungscodes zu installieren, sondern alle zu Überwacher und Überwachte zu machen. Jeder von uns ist - im Sinne Orwells - auch ein Großer Bruder. Das beginnt mit den Kindern, die von ihren Mitschülern über soziale Netzwerke nachhaltig und wirkungsvoll gemobbt werden, und es reicht bis zu den Großen, wenn die Vorlesungen namhafter Wissenschaftler anonym im Netz scheinbar überwacht und der Forscher - anonym versteht sich - denunziert wird.

Wir füttern pausenlos und zu oft unbekümmert das System mit persönlichen Daten und freuen uns wie Schneekönige, auf fremde Daten zugreifen zu können. Das Perfide an diesem System ist, dass wir im Netz immer Täter und Opfer zugleich sowie Internet-Kritiker auch Internet-Nutzer sind und sein müssen. Das Netz hat uns im wahrsten Sinne einverleibt; ohne uns ist es nichts, doch mit uns ist es alles.

Wir sind das Internet. Es abschalten zu wollen hieße, immer noch an unsere Eigenständigkeit zu glauben. Wir lachen darüber: über unsere Hybris.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort