Washington Hillary Clintons linker Rivale punktet

Washington · Bernie Sanders, 73, nach eigenen Worten der einzige Sozialist im US-Senat, wird zum Favoritenschreck.

Burlington ist der Inbegriff der Idylle, malerisch an einem See gelegen, weiße Kirchturmspitzen, alte Backsteinhäuser. Unlängst ließ das Rathaus voller Stolz wissen, man sei die erste amerikanische Stadt, die ihren Strom komplett aus erneuerbaren Quellen beziehe, Wasser, Biomasse, Wind und Sonne. Es gibt einen Fahrradservice, der Küchenabfälle abholt, um sie zu kompostieren. Burlington, mit seinen 42 000 Einwohnern die Metropole des kleinen Bundesstaats an der kanadischen Grenze, ist die Stadt, in der Bernard ("Bernie") Sanders seine Karriere begann.

Von 1981 bis 1989 war der gebürtige New Yorker, Sohn eines polnisch-jüdischen Farbenverkäufers, Bürgermeister von Burlington. Damals stand der Name Sanders stellvertretend für jene Idealisten und Alt-Hippies, die zu Hunderten aus der Hektik New Yorks auf ihre Insel gezogen waren, in die "Volksrepublik Burlington", deren Lebensgefühl an eine große Kommune denken ließ. Im US-Senat, in den er 2006 erstmals gewählt wurde, ist er nach eigenen Worten der einzige Sozialist, auch wenn ihn europäisches Verständnis eher den Sozialdemokraten zuordnen würde.

Als Sanders im Mai seine Kandidatur fürs Weiße Haus bekanntgab, galt er als krasser Außenseiter. Mancher sprach lächelnd vom Reklamefeldzug eines Lokalpatrioten, der für das Beispiel Vermonts werben wollte, eines Staats mit relativ hohen Steuern, gesetzlich geschützten Familienfarmen und ausgeprägtem Umweltbewusstsein. Nun ist er in den Umfragen an Hillary Clinton, der Favoritin der Demokraten, vorbeigezogen, zumindest in New Hampshire, traditionell die zweite, immens wichtige Etappe des Vorwahlrennens.

Um es einzuordnen: New Hampshire grenzt an Vermont, Sanders genießt dort praktisch Heimvorteil, anderswo dürfte Clinton die besseren Karten haben. Doch während sich die frühere First Lady, Senatorin und Außenministerin schwertut mit ihrer Kampagne, der bisher der zündende Funke fehlt, redet ihr Rivale in Hallen, die bis auf den letzten Platz besetzt sind. Allein in Los Angeles kamen neulich 28 000 Menschen, um ihn zu hören. Sanders ist 73, fünf Jahre älter als Clinton, und hat doch die deutlich jüngeren Anhänger um sich geschart. Der studierte Politikwissenschaftler mit seiner Reibeisenstimme trifft den Nerv einer Basis, deren Ärger auf die Geldbranche noch lange nicht verraucht ist, die nach den Exzessen der Finanzkrise Schuldige bestraft sehen möchte - und in Clinton eine Figur des Establishments sieht.

Sein Thema ist die wachsende Ungleichheit. Die ganze Welt, doziert er, habe Amerika einmal um seine breiten Mittelschichten beneidet. Doch die würden seit 40 Jahren dünner und dünner, und seit 1999 sei das reale Jahreseinkommen einer Durchschnittsfamilie um 5000 Dollar gesunken. Sanders spricht von Leuten, die mit zwei oder drei schlecht bezahlten Jobs gerade so über die Runden kommen, er nennt es eine "internationale Peinlichkeit", dass Mütter oder Väter nach der Geburt eines Kindes kein Anrecht auf bezahlten Urlaub haben. Um die zerbröselnde Infrastruktur zu erneuern, fordert er ein staatliches Sonderprogramm in Höhe von einer Billion Dollar. Die angepeilten Handelsabkommen mit Asien und Europa, TPP und TTIP, lehnt er ab: Schon die Freihandelszone NAFTA sei ein Fehler gewesen, weil Unternehmen ihre Produktion aus Michigan, Ohio oder Wisconsin ins billigere Mexiko verlegten.

Ins Bewusstsein der Amerikaner hat sich Sanders geredet, als er 2010 achteinhalb Stunden am Rednerpult des Senats stand, um sich über die Casino-Mentalität der Wall-Street-Banker zu empören: "Als diesen Burschen der Laden um die Ohren flog, haben sie die Steuerzahler weinend angefleht, ihnen doch bitte aus der Patsche zu helfen."

(RP)
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