Tel Aviv Herber Dämpfer für Netanjahu

Tel Aviv · Eine unerwartet hohe Wahlbeteiligung lässt in Israel neue Bündnisse möglich erscheinen.

Alles sei längst entschieden, so behaupteten Israels Meinungsforscher übereinstimmend. Nach einer lauen Wahlkampagne und angesichts zunehmender Resignation in der Bevölkerung würde Premier Benjamin Netanjahu wieder eine große Mehrheit erringen. Doch die Experten irrten: Nachdem die Israelis gestern in Scharen zu den Wahlurnen strömten, schmolz Netanjahus Vorsprung dahin – und Israels Linke feierte ein Comeback.

Nur 31 Mandate, elf Sitze weniger als bisher, soll Netanjahus Likud-Partei errungen haben. Dies ergaben einhellig mehrere Besucher-Befragungen am Ausgang der Wahllokale. Doch noch wichtiger: Statt des deutlichen Rechtsrucks, den Experten über Monate vorhergesagt haben, wird in der Knesset nun eine Pattsituation herrschen.

Der rechte Block, dem Netanjahu vorsteht, errang demnach 61 Mandate, die linke Opposition 59. Selbst die kleinen Parteien können leicht dafür sorgen, dass nicht Netanjahu, sondern einer seiner Widersacher Premier einer breiten und schwierigen Koalition wird. Als Chef des stärksten Blocks dürfte Netanjahu aber wohl trotz des schlechten Abschneidens des Likud-Beitenu-Blocks erneut mit der Regierungsbildung beauftragt werden.

Das Ergebnis war nicht die einzige Überraschung: Zweitgrößte Partei wird demnach die neue Bewegung des Star-Journalisten Yair Lapid, der gar keine außenpolitische Agenda verfolgt, sondern sich ausschließlich um Israels innenpolitischen Probleme kümmern will. Drittstärkste Kraft wurde nach den Wählerbefragungen die Arbeitspartei unter Shelly Jachimowich mit 17 Mandaten. Der neue israelische Politstar Naftali Bennett kann mit seiner ultrarechten Partei Habait Hajehudi (Das Jüdische Haus) auf zwölf Abgeordnete hoffen, etwas weniger als erwartet.

Die frühere Außenministerin Zipi Livni mit ihrer Neugründung Hatnua (Bewegung) erhielt demnach sieben Mandate, genauso viele wie die linksliberale Merez-Partei. Da keine der Parteien eine verbindliche Koalitionsaussage abgegeben hat und große Differenzen zwischen möglichen Koalitionspartnern bestehen, war unklar, welche Ausrichtung die künftige israelische Regierung haben wird.

Die Israelis waren überraschend in Scharen zur Parlamentswahl geströmt, besonders da, wo Netanjahus Likud-Partei traditionell schwach ist. "Ich rufe die Likud-Wähler dazu auf, alles stehen und liegen zu lassen, um wählen zu gehen", appellierte Netanjahu am Nachmittag an seine Anhänger. Am Abend berichteten israelische Medien, im Wahlhauptquartier des Likud mache sich Panik breit.

Netanjahus Anhänger liefen in zwei Richtungen davon: Die Vorsitzende der links-oppositionellen Arbeiterpartei, Shelli Jechimovich, hatte sich den Kampf für eine gerechtere soziale Marktwirtschaft auf die Fahnen geschrieben. "Ich bin von der hohen Wahlbeteiligung überhaupt nicht überrascht", sagte eine ältere Israelin, die im Herzliyah-Gymnasium in Tel Aviv bereits mehr als 30 Minuten darauf wartete, ihre Stimme abzugeben: "Nach den sozialen Protesten im vergangenen Jahr ist jetzt die Zeit gekommen, hier wirklich etwas zu verändern."

Wegen der Siedlungspolitik Israels in den Palästinensergebieten und mancher radikalen Wahlaussage der Parteien dazu verfolgte die Welt die Wahlen mit Sorge, vor allem im palästinensischen Ramallah: Dort warnte Präsident Mahmud Abbas, dass die Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr praktikabel sei, wenn Israel auch nach den Wahlen den Siedlungsbau fortsetze, wie Netanjahu seinen Wählern bereits versprochen hat. Diese Überzeugung scheint man auch in Europas Hauptstädten und in Washington zu teilen. Dort wächst die Bereitschaft, Druck auf Israel auszuüben, um Jerusalem zurück an den Verhandlungstisch mit den Palästinensern zu zwingen.

Wie sehr Netanjahu auf solchen Druck eingehen oder ihm vielleicht sogar mit eigenen diplomatischen Initiativen zuvorkommen wird, hängt nicht nur vom Wahlergebnis ab, sondern in erster Linie davon, welche Koalition er jetzt bilden kann. Der nun relativ schwache Likud wird auf viele Partner angewiesen sein, darunter auch Parteien aus Israels Mitte, die sich für eine diplomatische Lösung mit den Palästinensern einsetzen.

Ob der Nahe Osten sich nach den Wahlen in Israel beruhigt, hängt aber nicht allein von Netanjahus Koalition ab. Mehrere Urnengänge werden die Region bis zum Sommer maßgeblich prägen. Schon heute wird in Jordanien gewählt, danach in Ägypten, Tunesien und im Libanon. Und im Sommer wählen die Iraner einen neuen Präsidenten.

Netanjahu hatte sich im Wahlkampf als einziger Garant der Sicherheit Israels angesichts der Umbrüche im Nahen Osten dargestellt. Er werde den Kampf gegen eine iranische Atomwaffe in seiner neuen Amtszeit zur Priorität machen.

(RP)
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