Kabul Hatte US-Mörder Mittäter?

Kabul · Neue Details schüren Zweifel an der Version der internationalen Truppen, wonach das Massaker an afghanischen Zivilisten auf das Konto nicht nur eines US-Soldaten geht. Der Vorfall wirft auch ein grelles Licht auf die verhassten Nacht-Razzien der US-Spezialkräfte. Der diplomatische Schaden ist immens.

War es wirklich ein psychisch labiler Einzeltäter, der im Süden Afghanistans bei einem Amoklauf 16 Zivilisten erschoss? Oder war es in Wahrheit ein sogenanntes Kill-Team von US-Spezialkräften, die schlafende Kinder und Frauen massakrierten? Neue Details schüren mittlerweile Zweifel an der Nato-Version, wonach das Blutbad in der Provinz Kandahar auf das Konto eines einzigen US-Soldaten ging.

Das Massaker am Sonntag, bei dem 16 schlafende Zivilisten erschossen worden waren, war eines der schlimmsten dieser Art seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Während die Nato ihre Einzeltäter-These bekräftigte, widersprachen Augenzeugen: Nachbarn und Verwandte berichteten von mehreren Soldaten in ihren Dörfern. In einer Erklärung zitierte unterdessen der afghanische Präsident Hamid Karsai einen überlebenden 15-Jährigen: "Amerikanische Soldaten weckten meine Familie und schossen ihnen ins Gesicht."

Auch die Umstände passen nicht so recht zur Nato-Version. "Das ist viel Arbeit für einen einzelnen Schützen", urteilte der US-Kriegsreporter Michael Yon, der Anfang der 80er Jahre selbst den US-Spezialkräften angehört hatte: "Etwas an unserer Story ist sehr faul." So sollen die drei attackierten Häuser in zwei Dörfern liegen, die zwei Kilometer voneinander entfernt sind. Dorfbewohner wollen fast zeitgleich Schüsse aus verschiedenen Gegenden gehört haben, was nur möglich ist, wenn mehrere Soldaten unterwegs waren.

Die Soldaten hätten gelacht, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen Nachbarn namens Agha Lala: "Sie waren alle betrunken und schossen wild um sich." Ein anderer Augenzeuge berichtete: "Sie gossen Chemikalien über die Leichen und verbrannten sie." Ein Fotograf der Agentur AP bestätigte, einige Leichen seien verbrannt worden. Dies spricht eher für die These, dass es mehrere Soldaten waren – und diese womöglich versuchten, die Todesursache zu verschleiern.

Doch was ist passiert? Haben die Männer betrunken und aus purer Mordlust 16 Menschen, darunter neun Kinder und drei Frauen, erschossen, wie es durch Afghanistans Medien geistert? Oder sind sie einer fatalen, vielleicht sogar gezielten Fehlinformation aufgesessen, wonach sich in den drei Häusern Taliban versteckt hielten? Nicht selten beruhen Zugriffe dieser Art auf Hinweisen afghanischer Spitzel, die dafür bezahlt werden.

Auf alle Fälle hätte die Nato guten Grund, ein solches Vorgehen zu vertuschen und lieber die These vom Einzeltäter zu verfechten. Schon heute sind die Nacht-Razzien der US-Spezialkräfte bei den Afghanen zutiefst verhasst. Immer wieder kommen dabei Unschuldige ums Leben. Ginge das Massaker auf einen solchen Zugriff zurück, würden die USA damit offenbaren, auf was für dubiosen Informationen ihre Tötungsaktionen basieren – und dass ihre "Kill-Teams" völlig Wehrlose erschießen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Das käme den Amerikanern natürlich höchst ungelegen. Seit einem Jahr ringen Washington und Karsai um einen Militärpakt, "Strategische Partnerschaft" genannt, für die Zeit nach dem Abzug 2014. Die Gespräche sind in der Endphase. Einer der größten Streitpunkte sind die Nacht-Razzien. Die USA bestehen darauf, diese weiter durchzuführen. In Afghanistan gibt es jedoch erbitterten Widerstand: Nichts würde den Gegnern mehr in die Hände spielen als ein Nachteinsatz, der in einem Blutbad endet.

Der Schaden ist so oder so immens: Der Hass auf den Westen wächst, die Taliban erstarken, die Internationale Schutztruppe Isaf mutiert in den Augen vieler Afghanen zu einer Bande von Kinder- und Frauenmördern. Zumal auch Karsai die Version vom Amoklauf nicht stützte: "Dies waren absichtliche Morde an unschuldigen Zivilisten." Der US-Friedensforscher David Cortright sagt: "Das war ein fataler Schlag für die US-Militärmission in Afghanistan. Jeder Hauch von Glaubwürdigkeit, den wir vielleicht noch hatten, ist jetzt verloren."

Derweil sind die Dörfer weiter vom Wehklagen der Trauenden erfüllt. "War dies ein Taliban?", schreit Gul Bushra, während sie auf die Leiche ihres zweijährigen Kindes zeigt. Und die Taliban stacheln die Wut noch an. "Die USA töten eure Frauen und Kinder", sagt einer. "Worauf wartet ihr noch? Erhebt euch!"

Internet Schlüsseldaten zu Afghanistan unter www.rp-online.de/politik

(RP)
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