Analyse Hat der Staat zu geringe Einnahmen?

Berlin · Bund, Länder und Gemeinden haben im ersten Halbjahr 2013 deutlich mehr Steuern eingenommen als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Trotzdem beklagen SPD, Grüne und Linkspartei eine Unterfinanzierung.

Reiner Holznagel erkennt die Partei, für die er früher einmal gearbeitet hat, manchmal gar nicht wieder. Holznagel ist heute Präsident des Bundes der Steuerzahler. Aber vor gut zehn Jahren war er noch Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, wo CDU-Chefin Angela Merkel ihren Wahlkreis hat.

Damals, auf dem Leipziger Parteitag 2003, wollten Merkel und die CDU die Steuerzahler noch spürbar per Bierdeckel-Reform entlasten, aber heute sieht das ganz anders aus. Deutschland könne sich die Abschaffung des Solidaritätszuschlags nicht leisten, sagte Merkel am Wochenende. Die Soli-Einnahmen von jährlich 13 Milliarden Euro benötige der Bund, um mehr Geld in Straßen und Schienen zu stecken, so Merkel. Sie distanzierte sich damit von der FDP, die den Soli-Zuschlag in der kommenden Legislaturperiode schrittweise verringern will — bis er dann 2019 nach dem Ende des Solidarpakts II für die neuen Bundesländer auslaufen soll.

"Frau Merkel liegt falsch, wenn sie meint, der Soli sollte weiter bestehen. Sie erweckt damit den Eindruck, als habe der Staat nicht genügend Einnahmen", kritisiert Steuerzahlerpräsident Holznagel heute seine frühere Chefin. "Das ist falsch, denn die Einnahmen nehmen sogar rascher zu als in früheren Jahren." Das Problem der öffentlichen Haushalte seien deren Ausgaben. Wer jetzt wie Merkel sage, der Soli müsse unverändert erhalten bleiben, "zeigt damit schlicht und einfach, dass er nicht sparen möchte".

Doch wie Merkel sind auch die Oppositionsparteien der Meinung, der Staat habe sein Sparpotenzial längst ausgereizt. Mehr noch: Die Oppositionsparteien halten den Staat für chronisch unterfinanziert, während Union und FDP glauben, trotz aller Wahlgeschenke mit dem vorhandenen Geld auszukommen.

SPD und Grüne wollen Steuer- und Beitragszahler nach Berechnungen des industrienahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln jeweils per saldo um jährlich 60 Milliarden Euro zusätzlich belasten, die Linkspartei kommt sogar auf Mehrbelastungen von rund 160 Milliarden Euro pro Jahr. SPD und Grüne wollen die Vermögensteuer wieder einführen oder wenigstens eine Vermögensabgabe. Zudem wollen sie die Erbschafts-, Abgeltungs-, Immobilien- und die Einkommensteuer erhöhen. Sie begründen dies gern mit dem enormen Investitionsbedarf der öffentlichen Infrastruktur: mit Schuldächern, durch die es durchregnet, mit Schlaglöchern in den Straßen und mit Schwimmbädern, die schließen.

Holznagel sieht das freilich anders. Auch der Bund der Steuerzahler erkennt zwar an, dass der Staat mehr Geld ausgeben muss zur Erneuerung seiner vielerorts maroden Infrastruktur, doch das Geld dafür lasse sich auch ohne Steuererhöhungen erwirtschaften. "Wir haben kein Einnahmenproblem. Die Steuereinnahmen sprudeln, wie wir jetzt wieder sehen", sagt Holznagel. Das sehen auch Ökonomen so, die sich keinem politischen Lager zuordnen lassen wollen. "Wir brauchen keine Steuererhöhungen, sondern eine konsequente Überprüfung aller staatlichen Ausgaben, die an vielen Stellen ineffektiv sind oder einen zu geringen volkswirtschaftlichen Nutzen haben", sagt Andreas Scheuerle, Europa-Chefvolkswirt bei der Dekabank in Frankfurt.

Die jüngste Entwicklung der Steuereinnahmen scheint Holznagel und Scheuerle Recht zu geben: Trotz schwächerer Konjunktur sind die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden zwischen Januar und Juni besser gelaufen als im ersten Halbjahr 2012. Der Gesamtstaat nahm 3,5 Prozent mehr ein, wobei vor allem Länder und Gemeinden profitieren konnten. Die reinen Ländersteuern stiegen um 11,1 Prozent, der Gemeindeanteil an den Gemeinschaftsteuern um 8,2 Prozent. Reine Bundessteuern dagegen stagnierten im ersten Halbjahr, etwa weil die Tabaksteuerzahler weniger geraucht haben.

Vor allem die Lohnsteuer erfreut die Finanzminister und Kämmerer: Sie stieg im ersten Halbjahr deutlich um 7,2 Prozent an — eine Folge des hohen Beschäftigungsstandes und der jüngsten Tariflohnsteigerungen. Aber auch die Unternehmen zahlten höhere Steuern, die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer nahmen sogar um 9,2 Prozent zu.

Stimmen die Prognosen der Steuerschätzer, wird sich die positive Entwicklung in den kommenden Jahren fortsetzen: 2017 sollen die gesamtstaatlichen Einnahmen zum ersten Mal die 700-Milliarden-Euro-Marke überspringen und damit um etwa 100 Milliarden Euro über dem Stand von 2012 liegen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will im kommenden Jahr den ersten Mini-Überschuss im Haushalt feiern; sein Finanzplan bis 2017 sieht vor, dass er in den Folgejahren mit der Schuldentilgung beginnt — wenn auch nur im geringen Milliardenumfang.

Das Problem der Mehrheit der Bundesländer ist, dass ihre Ausgaben rascher steigen als die Einnahmen. Viele Länder, darunter an erster Stelle NRW, haben ihre Ausgabenentwicklung nicht im Griff. Ab 2020 müssen auch die Länder die Regeln der Schuldenbremse einhalten. Dann dürfen sie so gut wie keine neuen Schulden mehr machen — umso lauter trommeln sie jetzt mit SPD, Grünen und Linken für Steuererhöhungen.

Vielen Kommunen, davon wiederum viele in NRW, geht es ähnlich, wobei sie staatliche Aufgaben erfüllen müssen, die sie selbst oft nicht beeinflussen können. Um klammen Kommunen zu helfen, verfügt Deutschland über ein kompliziertes Geflecht von Finanzausgleichssystemen. Trotzdem, so meinen auch die Experten, sollten die Kommunen künftig finanziell besser ausgestattet werden, um mehr investieren zu können. Vor allem die Länder müssten zugunsten ihrer Kommunen auf Steueranteile verzichten, fordert Holznagel. Der Bund hat bereits viel zur Entlastung der Kommunen getan: Er nahm ihnen die Last der sozialen Grundsicherung im Alter und der teuren Eingliederungshilfen für Schwerbehinderte ab.

Unterfinanziert wäre der Staat aus Sicht der Experten nur dann, wenn aus dem Ausgaben- ein wirkliches Einnahmenproblem würde — und das wäre nur dann der Fall, wenn Deutschland wie 2005 in eine tiefe Krise gerissen würde.

(mar)
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