Größte Demo gegen Stuttgart 21

In Stuttgart waren am Wochenende mehr als 60 000 Demonstranten gegen das Bahn-Projekt Stuttgart 21 auf der Straße. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte angesichts der Beharrungskräfte davor, dass das Land bald nicht mehr veränderbar sei.

Die Proteste in Stuttgart gegen den Umbau des Bahnhofs reißen auch mit dem CDU-Politiker Heiner Geißler als Schlichter nicht ab. Nach Angaben der Polizei zogen am Samstag rund 63 000 Demonstranten durch die Stuttgarter Innenstadt. Die Veranstalter sprachen sogar von mehr als 100 000 Teilnehmern. Die Proteste blieben friedlich. Stuttgart 21 sieht vor, dass der Hauptbahnhof von einem Kopf- in einen Durchgangsbahnhof umgewandelt und in den Untergrund verlegt wird. Das Projekt kostet rund 4,1 Milliarden Euro.

Politiker von CDU und Grünen lieferten sich am Wochenende erneut einen verbalen Schlagabtausch. Sachsens Ministerpräsident Stanislav Tillich (CDU) warf den Westdeutschen vor, zu bequem für Veränderung zu sein. "Bei uns gibt es noch mehr Motivation", sagte er dem "Focus". Er fügte hinzu: "Wir haben Kohlekraftwerke gebaut, Straßen und Autobahnen, Braunkohle-Tagebaue erweitert. Das ist in anderen Bundesländern nicht mehr möglich." 20 Jahre nach der Einheit kann der Westen nach Ansicht Tillichs auch etwas vom Osten lernen. Der Sachse rief das Regierungsbündnis in Baden-Württemberg zum Durchhalten auf. "Die Politik sollte umfassend ein solches Projekt erklären und auf dem einmal eingeschlagenen Weg nicht umkehren."

Vor einer Lähmung der Republik warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Wenn wir es nicht schaffen, lokale und gesamtwirtschaftliche Interessen zusammenzubringen, dann ist dieses Land nicht mehr veränderbar", sagte die Kanzlerin. Wenn man nur an sich denke und nicht an kommende Generationen, sei das ein Problem "für unser Land".

Die Grünen, die auch durch ihre strikte Ablehnung des Bahnhofsumbaus zurzeit einen enormen Zulauf erfahren, bezeichneten Bahnchef Rüdiger Grube als Hauptverantwortlichen der Eskalation im Streit um den Bahnhofsneubau. "Die Sturheit der Bahn war eines der größten Hindernisse in dem ganzen Prozess", sagte der baden-württembergische Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann der "Welt am Sonntag". Die Bahn wies die Kritik als "unberechtigt" zurück.

Wegen der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten wollen die Grünen im Landtag einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Der Chef der Bundesgrünen, Cem Özdemir, warf den Befürwortern des Projekts vor, bei dem Vorhaben sei es "nie wirklich um die Bahn" gegangen. Vielmehr gehe es Stuttgart darum, "ein neues Stadtgebiet, ein Luxus-Stadtgebiet" zu erschließen.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wandte sich unterdessen in einem offenen Brief an die Bürger und bot weitere Gespräche an. Der Regierungschef schlug eine "Dialog-Agenda Stuttgart 21" vor, die die Schlichtungsgespräche ergänzen sollte. In diesem Rahmen könne über konkrete Einzelfragen wie Kosten und Baustellenmanagement, Anwohnerschutz und besseren Nahverkehr diskutiert werden. Mappus betonte aber auch, ausländische Unternehmen seien über den Streit um das Projekt sehr verwundert, deutsche Firmen seien teilweise schockiert. "Es geht um die Frage: Kann ich in Deutschland auf Basis von Rechtssicherheit und Vertragstreue noch Projekte angehen." Ein erstes Schlichtungsgespräch ist nach Angaben der Bahnhofsgegner für morgen geplant. Die Spitze der Bundes-SPD wird heute ihre Präsidiumssitzung in Stuttgart abhalten. Die Partei ist in der Bahnhofsfrage gespalten. Während die SPD in Stuttgart immer für das Großprojekt eingetreten ist, fordert die Mehrheit der Partei nun einen Bürgerentscheid zum Umbau. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe warf den Sozialdemokraten im Gespräch mit unserer Zeitung vor, ihre Sitzung in Stuttgart sei eine "reine Show-Veranstaltung". Die Sozialdemokraten müssten aber endlich mehr liefern als Show. Er fügte hinzu: "Seit Wochen drücken sich Gabriel und Co. vor einer konkreten Aussage – und das bei einem für Deutschland so wichtigen Infrastrukturprojekt wie Stuttgart 21." Dieses Verhalten reihe sich nahtlos ein in den Eiertanz der SPD in allen wichtigen Politikfeldern, meinte Gröhe, "sei es beim Sparpaket, der Rente mit 67 oder der Euro-Rettung".

Angesichts der tiefen gesellschaftlichen Spaltung in Stuttgart haben auch die Kirchen Hilfe angeboten. Der evangelische Landesbischof der Württembergischen Kirche, Frank Otfried July, sagte: "Wir Kirchen sind bereit, die Schlichtung zu begleiten."

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