Analyse Grass – der Gescheiterte

Berlin · Ausgerechnet nach jahrzehntelangem Schweigen über seine eigene Vergangenheit in der Waffen-SS wirft der Nobelpreisträger der Kanzlerin ihre Vergangenheit in der DDR vor, wo sie "Anpassung und Opportunität gelernt" habe.

Günter Grass gefiel sich immer schon im Polarisieren. Das Echo teilte sich scharf zwischen den Sozialdemokraten, für die er wortgewaltig Wahlkampf machte, und den Christdemokraten, für die sich oft die Frage stellte, ob einer wie er den Literaturnobelpreis wirklich verdient hat. Nach seinen Auswürfen gegen Israel, Merkel und die Bundeswehr schließen sich die Reihen der Grass-Gegner: Nun haben auch SPD-Politiker große Probleme mit dem Blechtrommler. Der Grass-Nimbus des Gescheiten wandelt sich zum Urteil über einen Gescheiterten.

Wie so viele Auftritte galt auch der jüngste im Willy-Brandt-Haus dem Ego des 85-Jährigen — einer Edition seines Briefwechsels mit demdamaligen SPD-Idol Willy Brandt. Für ihn hatte er seinerzeit vornehme intellektuelle Zurückhaltung gegen Parteilichkeit eingetauscht, und da er nun in der Parteizentrale schon mal mit einem fernen Nachfolger des Kanzlerkandidaten Brandt zusammen die Bühne betrat, hielt Grass auch einige vermeintliche Unterstützungen für ihn bereit. Dieser musste sich jedoch schon bald dagegen verwahren.

"Im Gegenteil", rief Peer Steinbrück, als Grass die Bundeswehr als "Söldnerarmee" beschimpfte, in der junge Deutsche "gegen Bezahlung" in Auslandseinsätzen "verbraten" würden. Und der Kandidat erläuterte dem ratgebenden Schriftsteller, warum die Bundeswehr in diese Gesellschaft integriert und wichtig für Deutschland sei.

Dafür glaubte Grass Steinbrück erklären zu können, warum Merkel in den Umfragen so weit vor ihm liegt: "Sie hat Ihnen eines voraus", meinte der Nobelpreisträger, und sezierte nun mit zunehmender Schärfe: "Sie hat eine doppelte, gesamtdeutsche Ausbildung." Damit meinte Grass Merkels Vergangenheit in der DDR-Jugendorganisation und im Kabinett von Helmut Kohl: "In der FDJ-Zeit hat sie Anpassung und Opportunität gelernt, bei Kohl natürlich den Umgang mit der Macht", so Grass. Und er beklagte, dass es die Kanzlerin in der Euro-Krise geschafft habe, "zu allen unseren Nachbarn das Verhältnis zu trüben". Das wäre Willy Brandt niemals passiert.

"Die Entgleisungen sind eines Literaturnobelpreisträgers unwürdig — die Vorwürfe gegen Frau Merkel sind anmaßend und geschmacklos", sagte FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle unserer Zeitung. Die Äußerungen zur Bundeswehr seien ein Schlag ins Gesicht jedes Soldaten. Davon müsse sich Steinbrück distanzieren. Aber auch Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering empfand "bei allem Respekt vor Grass als Schriftsteller: Solche Schmähungen des Lebens in der DDR sind unerträglich. Erst recht 23 Jahre nach der Deutschen Einheit."

Vor allem der Vorwurf von "Anpassung und Opportunität" knallt Grass wie der Tritt auf eine offen liegende Gartenharke zwangsläufig an den eigenen Schädel. Sein Ruf des weitsichtigen Sezierers von Schicksalen und Verhältnissen ist seit dem sehr späten Bekenntnis zu eigenem Versagen im Nationalsozialismus ruiniert. Zudem lesen sich seit der Komplettierung der Lücke in seiner Vita seine zurückliegenden Schmähungen als unbegreifliche Doppelmoral.

Grass hatte in den Chor der Kritiker mit eingestimmt, als Kohl 1985 mit US-Präsident Ronald Reagan der Toten der Weltkriege gedachte, und zwar auf einem Soldatenfriedhof in der Eifel, wo auch Mitglieder der Waffen-SS bestattet worden waren. Über zwei Jahrzehnte später gab Grass zu, selbst Mitglied dieser politischen Armee Hitlers gewesen zu sein.

Unerbittlich verfolgte Grass die Diener des Nationalsozialismus, wenn sie geläutert in der Bundespolitik Verantwortung übernahmen. Doch an sich selbst legte er den Maßstab des Verschweigens an. 2006 war die Erschütterung unter den Grass-Fans entsprechend gewaltig. Und jetzt bekannte Grass, er habe Brandt auch wegen dessen Haltung zum Nationalsozialismus bewundert, während er selbst "wie ein Idiot bis zum Schluss an den Endsieg geglaubt" habe.

Grass erliegt offenbar der Fehlwahrnehmung, dass er mit solchen klaren Selbstdistanzierungen die Zügel über die Deutung seines Lebens wieder in die Hand bekommen hat. Dabei ist die Frage noch nicht beantwortet, wie die Idiotien in seiner Vita zu gewichten sind. Was wiegt schwerer: die katastrophale Fehleinschätzung, sich mit der freiwilligen Meldung zur U-Boot-Truppe und dann zur Waffen-SS auf unverdächtige Weise aus der Enge des Elternhauses befreien zu können? Oder den Dienst als Schütze der SS-Panzerdivision "Fundsberg" über sechs Jahrzehnte verschwiegen zu haben?

Es liegt nahe, dass ihm dieses Verhalten opportun erschien. Mit einer von Anfang an befleckten, aber lückenlosen Vita hätte er den Weg zum deutschen Nationaldichter, Nobelpreisträger und zur moralischen Instanz wohl kaum gehen können. Um so mehr erwartete die Öffentlichkeit, dass sich Grass im Alter gerade bei allen Themen zurückhalten würde, die seine weit ausholenden Einwürfe als Bumerang zurückbringen können.

Die Erwartung täuschte bereits im vergangenen Jahr, als sich Grass nicht etwa um die Atombewaffnung des Irans und dessen Drohung, Israel ausradieren zu wollen, sorgte, sondern Israel attackierte. Bewusst griff er zum Mittel des "Gedichtes", nutzte also seine Autorität als Schriftsteller, um der "Atommacht Israel" die Gefährdung des Friedens und die Bereitschaft zum Einsatz "allesvernichtender" Sprengköpfe zu unterstellen. In den von Grass gewählten Formulierungen erkannte der Publizist Henryk M. Broder den "Prototyp des gebildeten Antisemiten".

Grass dichtete auch die Begründung, er sei der "Heuchelei des Westens überdrüssig". Ein Jahr später scheinen immer mehr Menschen der Heuchelei des Günter Grass überdrüssig zu werden.

(may-)
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