Istanbul Gespannte Ruhe im Istanbuler Gezi-Park
Istanbul · Ministerpräsident Erdogan trifft sich mit Aktivisten und schlägt ihnen ein Referendum vor. Er stößt jedoch auf Skepsis.
Nach den bisher schwersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten in Istanbul hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gestern erstmals Vertreter der Protestbewegung in Ankara zu einem Gespräch gebeten und ihnen eine Volksabstimmung über das umstrittene Bauprojekt im Gezi-Park in Aussicht gestellt.
Kurz vor dem Treffen wurde Erdogan mit der Bemerkung zitiert, die Proteste würden "innerhalb von 24 Stunden erledigt" sein. Er habe seinem Innenminister entsprechende Anweisungen gegeben. Auch der Gouverneur von Istanbul deutete neue Polizeiaktionen an: Der Gezi-Park, das Zentrum der Protestbewegung, müsse "so schnell wie möglich geräumt werden", sagte Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu.
Viel Hoffnung setzten die Demonstranten ohnehin nicht in die Verhandlungen mit Erdogan: Viele sagten, sie rechneten für die nahe Zukunft mit einem neuen Angriff der Polizei, die außerhalb des Parks Hunderte Beamte mit Wasserwerfern zusammenzog. "Ich erwarte nichts – abgesehen von der nächsten Attacke", sagte Cengiz, ein 29-jähriger Aktivist im Park. Für den Abend wurde zu einer neuen Demonstration in Istanbul aufgerufen.
Ein brutaler Polizeieinsatz gegen ein friedliches Sit-in von Umweltschützern im Gezi-Park am 31. Mai hatte die landesweiten Proteste ausgelöst. Im Park haben mehrere Hundert Aktivisten Zelte aufgeschlagen; sie wollen bleiben, bis die Regierung auf ein Bauvorhaben auf dem Gelände verzichtet.
Am Dienstag hatte die Polizei den Taksim-Platz direkt neben dem Gezi-Park besetzt und damit schwere Straßenschlachten ausgelöst, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzogen. Dabei drangen die Beamten auch mehrmals in den Park vor, zogen sich jedoch wieder zurück. Anschließend schoss die Polizei Tränengas in den Park – trotz einer Zusage der Behörden, dass der Park nicht angetastet werde.
Erdogan traf sich in Ankara mit einer Gruppe von elf Künstlern, Studenten und Akademikern. Der Ministerpräsident soll den Vorschlag gemacht haben, im Streit um das Bauprojekt die Istanbuler Bürger entscheiden zu lassen. Das teilte der Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Hüseyin Celik, nach dem Treffen am Abend mit. Wegen der zuvor demonstrierten Härte Erdogans hatten einige ebenfalls eingeladene Aktivisten die Gesprächsrunde in Ankara boykottiert. Vor seiner Begegnung mit den Vertretern der Demonstranten hatte Erdogan die Lage mit der erweiterten Führung seiner regierenden AK-Partei beraten.
AKP-Sprecher Celik sagte, das Referendum könnte im betroffenen Istanbuler Bezirk Beyoglu oder auch in der 15-Millionen-Stadt insgesamt stattfinden. Die AKP ist sich sicher, dass sie ein Referendum gewinnen würde, denn sie hat derzeit sowohl in Beyoglu als auch in ganz Istanbul die Mehrheit.
Im Gezi-Park selbst bereiteten sich die Demonstranten auf neue Polizei-Angriffe vor. Mehrere Dutzend halb gefüllte Wasserbehälter wurden im Park verteilt – dort werden im Ernstfall Tränengaspatronen der Polizei hineingeworfen, um sie unschädlich zu machen. An einigen Tischen stand Milch bereit, die von den Demonstranten benutzt wird, um nach einem Tränengas-Angriff der Polizei die Augen auszuwaschen. Viele Demonstranten trugen Gasmasken und Helme.
Die Unterstützung für die Demonstranten aus der Bevölkerung hat durch die Straßenschlachten vom Dienstag nicht gelitten, im Gegenteil: "Es kommt immer mehr hier an", sagte ein Mann an einer Annahmestelle für Lebensmittelspenden im Park. Zusammen mit mehreren Helfern sortierte er die eingegangenen Spenden: Wasser, Milch, Saft, Brot, Gebäck, Obst, Einwegbesteck – und sogar einige Gasmasken.