Kolumne: Gesellschaftskunde Was die Leselisten-Schlachten im Internet verraten

Derzeit fordern sich Menschen im Internet dazu auf, die wichtigsten Bücher ihres Lebens aufzuzählen. Das ist ein spannendes Spiel, aber über Literatur verrät es wenig.

Nun sind also die Bücher dran. Nachdem sich die Leute im Internet wochenlang gegenseitig dazu aufgefordert haben, sich für einen guten Zweck Eiswasser über den Kopf zu kippen, kursiert jetzt eine neue Herausforderung: Die "Book Challenge" - nenn mir die wichtigsten Bücher Deines Lebens! Nutzer der sozialen Medien leiten ihre Lieblingsbücher-Liste an andere Nutzer weiter und verlangen von ihnen als Erwiderung die nächste Liste. So entsteht eine vielstimmige Sammlung lebenswichtiger Literatur. Ein Kanon von unten. Nicht die Literaturpäpste stellen zusammen, was man gelesen haben muss, die Leser tun es selbst und beglaubigen ihr Urteil durch das eigene Schmökern. Im Tourismus ist das Urteil anderer Reisender längst entscheidend für viele Kunden, die im Internet buchen. Warum sollte das nicht auch bei Buchempfehlungen funktionieren?

Man kann die "Book Challenge" also für eine Ermächtigung der Leser halten, für ein Beispiel der Demokratisierung durch das Netz. Das lässt allerdings außer Acht, dass das Internet nicht nur ein Informationsmedium ist, sondern auch eines der Selbstdarstellung. Eine in sozialen Netzwerken verschickte Bestenliste ist nicht nur eine Leseempfehlung von Nutzer zu Nutzer, sondern ein Gruß von Facebook-Freunden, die immer auch am Bild arbeiten, das sie im Netz von sich abgeben wollen.

Früher blätterten die Erfolgreichen in der Werbung Fotos von ihren Besitztümern auf den Tisch: mein Haus, mein Auto, mein Boot. Inzwischen ist offensichtlicher Materialismus verpönt, scheint Bildung das überzeugendere Statussymbol: Mein Canetti, mein Musil, mein Benjamin. Es ist schon beeindruckend, was manche Internet-Bekenner so alles gelesen haben wollen.

Sag mir, was Du liest und ich sag Dir, wer Du bist - Lesen verrät Persönlichkeit, unsere Lesevorlieben sind Spiegel unseres Selbst. Darum ist die Book Challenge tatsächlich eine Herausforderung, denn wer zusammenstellt, was für ihn die wichtigsten Bücher seines Lebens sind, gibt viel von sich preis. Die Addition dieser Listen gibt aber keinen ehrlicheren Überblick über das, was in Deutschland tatsächlich gelesen wird. Sie verrät vielmehr, wie sich Menschen aktuell sehen wollen, welche Autoren ihnen wichtig erscheinen, welche prestigeträchtig.

Auf Listen bleiben Bücher Label, Etiketten für Lebensstil. Bedeutung bekommen sie erst, wenn man über seine Leseerfahrung spricht, sich über die Inhalte austauscht. Das ist zu komplex für eine Challenge, aber gut fürs Leben.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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