Gesellschaftskunde Warum wir in wahlkampfmüden Zeiten leben

Der Wahlkampf kommt nicht in Schwung. Das lasten viele den Politikern an. Es ist aber auch Symptom der heutigen Zeit.

In stetigeren Zeiten verband Menschen mit denselben Problemen ein Wir-Gefühl. Es war die Zeit der Gewerkschaften, der Lohnverhandlungen, die Zeit, als soziale Fragen noch bei Kundgebungen verhandelt wurden. Heute empfinden Menschen sich weniger als Teil sozialer Klassen, obwohl sie es nach wie vor sind. Heute bemühen sie sich um einen eigenen Stil, wollen sich als Individuen empfinden, laufen mit Kopfhörern über die Straße – lauter Einzelne im Soundtrack ihres Lebens, Klanginsulaner, die nicht mehr hören, was andere in der Welt so sprechen und nicht mehr wissen wollen, wer ihre sozialen Verbündeten sind.

Natürlich folgen auch Karrieren heute nicht mehr betriebsüblichen Mustern, sondern nehmen individuelle Wege. Gehälter werden persönlich ausgehandelt. Folglich halten Menschen ihre wirtschaftliche Lage für das Ergebnis individueller Bemühungen. Und so ist Gerechtigkeit, die Verteilung von Wohlstand, keine Frage des Kollektivs mehr, sondern scheinbar Folge des Fleißes, Engagements, der Leistung des Einzelnen, vielleicht noch von Glück und Pech. Jedenfalls kein brennendes Wahlkampfthema.

Wenn Menschen ihre eigene soziale Lage einschätzen, vergleichen sie auch nicht mehr mit den Verhältnissen in früheren Zeiten. Sie vergleichen synchron, mit dem Lebensniveau "der anderen" oder "der da oben", der Manager etwa. So entstehen Neidgefühle statt politischen Bewusstseins, nicht mehr die Verhältnisse oder historische Entwicklungen erscheinen ungerecht, sondern aktuelle Einkommensunterschiede im individuellen Vergleich.

All das nagt am sozialen Bewusstsein, am Zusammengehörigkeitsgefühl gesellschaftlicher Schichten. Damit schwindet auch der Elan sozialer Gruppen, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten und in politische Prozesse einzubringen – zum Beispiel an Wahlkampfabenden mit dem Abgeordneten vor Ort.

Natürlich streiken hier und da mal die Fluglotsen oder das Pflegepersonal, doch grundsätzliche Fragen der Gerechtigkeit sind nur noch selten Gegenstand engagierter öffentlicher Debatten. Interessensgruppen finden und verflüchtigen sich, Bürgerinitiativen zu lokalen Ärgernissen gründen und zerstreuen sich, grundsätzliche Forderungen nach Ausgleich zwischen den Klassen wirken nur noch gestrig.

Die Frage, welche Chancen auf Entfaltung ein Mensch heute hat, ist aber keine rein individuelle. Wenn die Mehrheit sich lieber heraushält aus Fragen etwa der Bildungschancen oder der Wohlstandsverteilung, bedeutet das nicht, dass die Fragen nicht mehr akut wären. Gut drei Wochen vor der Bundestagswahl sollten diese Themen mal wieder Gesprächsstoff sein. Warum nicht am Stammtisch? Fußball, Wetter, Urlaubsreise sind doch irgendwann langweilig.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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