Gesellschaftskunde Warum die Kontrollgesellschaft scheitern muss

Wenn eine Gesellschaft selbst Zwischenmenschliches normiert, erstickt sie an Bürokratie.

Irgendwann hat dieser Kontrollwahn begonnen. Seither müssen Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, ihre Aufgaben in endlose Formulare eintragen. Pädagogen sind gehalten, ihre Lehrabsichten und den Fortschritt ihrer Schüler auf Maß zu bringen und zu dokumentieren. Forscher bekommen auch in geisteswissenschaftlichen Fächern nur noch Geld für größere Projekte, wenn deren Beschreibung normierten Vorgaben entspricht.

Dieser seltsame Drang, alles auf Gleichmaß zu trimmen, objektiv zu bemessen, was sich positivistischer Erhebung entzieht, hat seine Ursache im Streben der Gesellschaft, Leistung zu kontrollieren und vergleichbar zu machen. Das steigere den Konkurrenzdruck, so die Logik des Systems. Dass dadurch auch die Leistung steigt, ist aber ein Fehlschluss — mit weitreichenden Folgen. Menschen, die mal Pfleger wurden, weil sie sich gern um andere Menschen kümmern, fehlt genau dafür die Zeit. Lehrer, die ihren Unterricht gern lebensnah gestalten, verfehlen abstrakte Leistungsziele. Dabei hat man doch von den Plaudereien seiner Pauker am meisten gelernt. Und an den Unis machen jene Karriere, die das Antragsdeutsch beherrschen, Modethemen bedienen, wenig riskieren.

Doch seltsamerweise gibt es kaum Protest gegen diese Verhältnisse. Es scheint, als habe sich die Kontrollgesellschaft damit abgefunden, dass inzwischen auch Zwischenmenschliches beobachtet und gemessen wird. Egal, welch absurden Aufwand, welch kafkaeske Bürokratie das erfordert. Als könne man das Bemühen einer Krankenschwester um den Patienten oder eines Lehrers um den Schüler wiegen oder zählen. Das aber macht die Qualität in solchen Berufen aus, nicht die Erfüllung von Kriterien, die sich Menschen ausdenken, deren Ziel einzig die Kontrolle ist.

Die Betroffenen reagieren meist mit Zynismus, erzählen ihren Freunden abends beim Bier, wie verrückt es ist, dass sie Formulare ausfüllen müssen, statt ihre Arbeit zu tun. So reagieren Menschen auf Fremdbestimmung, wenn sie die Hoffnung verloren haben, dass an falschen Zuständen etwas zu ändern ist. Der Kontrollwahn wird nur enden, wenn die Gesellschaft wieder Vertrauen fasst in die innere Motivation ihrer Mitglieder. Die meisten Menschen machen ihre Arbeit doch gut, weil ihnen das Freude bereitet, weil es sie erfüllt. Nicht weil sie Normen bedienen, Konkurrenzschlachten schlagen wollen. Darauf sollte die Gesellschaft bauen — und sich das nächste Leistungsformular lieber sparen.

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(RP)
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