Kolumne: Gesellschaftskunde Wachsende Ansprüche erschweren das Leben

Veränderte Arbeitsbedingungen machen die Balance zwischen Arbeit und Leben zum Kunststück. Doch warum hatten frühere Generationen damit weniger Probleme?

Man muss nur mal mit Menschen sprechen, die das Rentenalter erreicht haben, aber keineswegs im Ruhestand sind. Die erzählen munter, wie sie Enkelkinder versorgen, Ehrenämter übernehmen, nebenher Kinos, Theater, Konzertsäle anfüllen. Von Stress keine Spur. Und auch wenn sie von früher erzählen, vom Kindergroßziehen, Betriebegründen, Hausbauen, ist selten von Überlastung die Rede. Eher vom Stolz auf das Geschaffte, von Anstrengungen, die zusammenschweißten.

Nun erscheint die Vergangenheit häufig in goldenem Licht, und gerade Belastungen verdrängt der Mensch schnell und nachhaltig. Doch das Thema Work-Life-Balance scheint ein Phänomen zu sein, mit dem sich erst jene Generation herumschlägt, die heute Beruf und Leben, Karriere, Familie und Freizeit in einen guten Ausgleich bringen muss. Das liegt sicher an veränderten Arbeitsbedingungen.Vor allem gehobene Jobs haben heute die Tendenz, sich in das private Leben hineinzufressen. Mitarbeiter müssen mehr kommunizieren, länger erreichbar sein, sie reisen öfter und sind gefragt, ihre Projekte in hoher Eigenverantwortlichkeit durchzuziehen. Da lässt sich die Arbeit nicht mehr so leicht an der Wohnungstür abstreifen, und die Work-Life-Balance wird unweigerlich zum Thema. Doch auch in der Zeit vor Mobiltelefon und Selbstmanagement waren Menschen bei der Arbeit stark gefordert, fielen Väter abends müde vom Malochen auf das Sofa, hatten Mütter Teilzeitstellen und schmissen mit weniger männlicher Unterstützung nebenher den Haushalt.

Dass Menschen heute mehr unter Überlastung leiden, hat wohl auch mit gestiegenen Ansprüchen zu tun. Die Arbeit soll spannend, anregend, aber beizeiten beendet sein. Freizeit wird nur als befriedigend empfunden, wenn sie ganz zur freien Verfügung steht und dem Einzelnen Erlebnisse beschert, die seinen Alltag bereichern. Auch die Ansprüche an Ehe- und Familienleben sind gewachsen. Routine gilt als Gift. Partner wollen attraktiv, überraschend, reizvoll füreinander bleiben. Die Zeit mit den Kindern soll für alle Seiten anregend verbracht werden - das sorgt auch jenseits der Büros für Leistungsdruck. Natürlich dürfen Menschen Erwartungen an die Qualität ihrer Arbeit und ihres Lebens haben. Manche Stumpfheit von einst wünscht sich niemand zurück. Es ist nur gefährlich, wenn diese Erwartungen zu neuen Stressquellen werden. Manchmal hilft da ein Gespräch mit den Alten, die ehrlich erzählen, wie es früher war.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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