Kolumne: Gesellschaftskunde Süchtig nach dem Neubeginn

Eine Attraktion der Konsumgesellschaft ist die Lust am Neuanfang. Sie kann Menschen in Atem halten - und lässt sie ständig um sich selbst kreisen, dabei ist die Gesellschaft als Kollektiv mehr und mehr gefordert.

Der Neuanfang ist eine der attraktivsten Verheißungen der Gegenwart. Von vorn beginnen, sich neu erfinden, einen anderen Lebensstil ausprobieren erscheint als Antwort auf all die Ermüdungserscheinungen, die Menschen in ihrem gestressten Alltag empfinden: Vielleicht würde ein Haus auf dem Land inmitten von Beschaulichkeit von der Zerquältheit im Job erlösen. Oder sollte man es mit veganer Ernährung versuchen oder sich eine Nähmaschine kaufen, wie sie die Oma besaß? Die wirkte immer so zufrieden.

All diese Angebote sind Steine für das Identitätsmosaik, an dem jeder alleine baut. Sie verheißen, das Gewohnte hinter sich zu lassen, das eigene Ich anders zu modellieren und womöglich näher an das heranzukommen, was wirklich glücklich macht. Was sich echter, richtiger, unverbrauchter anfühlen könnte.

Doch all diese Neuanfänge mit den unausgesprochenen Glücksversprechen sind zunächst einmal Anlass, sich neu auszustatten. Das andere Leben muss bestückt werden. So erschöpft die Konsumgesellschaft mit ihrem Überangebot an Produkten, Dienstleistungen, Hobbytrends; sie hat aber gleich schon die Lösung für diese Überforderung parat: den Neubeginn, die Veränderung, die von der Gegenwart erlöst. Und den Konsum in Schwung hält. Die Gedanken an den nächsten Selbsterfahrungstrend halten jedenfalls in Atem. Sie beschäftigen Menschen immer neu - allerdings vor allem mit sich selbst. Auch deswegen ist heute immer weniger von gesellschaftlichen Utopien die Rede, von Vorstellungen, wie Leute im Kollektiv den Herausforderungen ihrer Zeit begegnen können. Schon solche Überlegungen anzustellen, erscheint vielen ja als naiv, als lästige Zumutung, wo es doch um das private Fortkommen, das eigene Glück in der immer neu stimulierten Selbsterfahrung geht. Das spielt auch bei den Auseinandersetzungen um die Flüchtlinge eine Rolle. Denn viele Menschen aus anderen Kulturen zu integrieren, ist eine kollektive Aufgabe. Sie verlangt nach gemeinschaftlichen Initiativen, nach viel gutem Willen in Gruppen mit ihren oft ermüdenden Dynamiken. Wie viel einfacher ist es, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich von variierenden Anregungen zur Gestaltung des Ichs auf Trapp halten zu lassen. Das gilt als Ausweis von Individualität und ist angesehen. Jedenfalls erscheint es cooler, als sich mit den Nöten anderer herumzuplagen und sich dafür auch noch auf das Engagement in Gruppen einzulassen. Dass Vereine sterben, viele Menschen sich nur noch auf kurzfristige Bindungen einlassen, hat mit unserer Gesellschaftsform zu tun. Konsum ist nicht nur, was wir tun, wenn wir shoppen gehen. Es ist eine Haltung zum Leben, die das Denken durchdringt und süchtig machen kann nach dem Kitzel des Neubeginns. Auch wenn der nur an der Oberfläche stattfindet. Und nicht viel verändert.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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