Kolumne: Gesellschaftskunde Schau zu, und ich zeig' dir, wie ich lebe

Videokanäle wie "YouNow" sind eigentlich langweilig, sie verdoppeln nur die Wirklichkeit. Doch genau das macht sie so beliebt. Jeder kann sich wiederfinden und wird im eigenen Leben bestätigt.

Kommunikationsangebote wie Twitter oder WhatsApp erleichtern das Leben. Menschen können Nachrichten schnell austauschen, sie müssen nicht mehr um zehn Ecken telefonieren, sondern können ihre Botschaften direkt verbreiten - von einem an alle. Das vervielfacht Kontakte untereinander. Das hat auch die Meinungsvielfalt erhöht, mit alten Machtstellungen gebrochen. Bürger können sich etwa über Twitter zu allem äußern, was sie bewegt, und werden gehört. Abseits der gewohnten Kanäle ist so ein feinverästeltes Wurzelwerk entstanden, aus dem sich Meinungen nähren.

Allerdings bereitet es Mühe, Haltung gegenüber der Wirklichkeit einzunehmen, und sei es, um eine sarkastische Kurzbemerkung in die Welt zu tippen. Darum verlegen sich viele Menschen darauf, einfach mitzuteilen, was sie gerade tun, wo sie sind, was sie sehen. Das hat zur Folge, dass Wirklichkeit wiederholt wird. Man tauscht sich nicht aus über Sichtweisen, die Realität wird nicht tiefer durchdrungen, sie wird verschriftlicht, gespiegelt, verdoppelt - nicht mehr.

Der Sinn solcher Mitteilungen liegt darin, Lebenszeichen von sich zu geben, anderen zu signalisieren: Ich bin da. Und diese Anderen scheinen das gern zu verfolgen, weil sie sich in dieser gespiegelten Wirklichkeit wiederfinden, weil das auch ihr Dasein bestätigt. So lässt sich erklären, warum Live-Videokanäle wie "YouNow" so erfolgreich sind. Eigentlich passiert darin ja nichts. Menschen lassen sich beim Leben zuschauen, öffnen ihre privaten Räume, sitzen vor der Kamera und treten in Echtzeit mit ihren Zuschauern in Verbindung. Was sich dabei an Unterhaltungen ergibt, ist banal. Es geht nur um ein bisschen Neugier: Sehen, wie andere so wohnen, was andere so tun. Vor allem vermittelt dieser Blick ins Wohlvertraute ein Gefühl der Sicherheit: Die anderen beschäftigen sich auch mit Schminken, spielen am PC, lesen Harry Potter. Der Blick ins fremde Zimmer ist so wenig irritierend wie der in den eigenen Spiegel: alles wohl vertraut, alles in Ordnung, alles kann so weitergehen.

Vielleicht ist die Welt schon irritierend genug. Vielleicht sehnen sich viele Menschen deshalb so nach dem Altbekannten, Berechenbaren, nach der Spiegelung ihrer eigenen Wirklichkeit. Doch offenbart das auch einen Mangel an Abenteuerlust, an Neugier auf das Fremde, an Spaß an der Irritation. Nur in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten kann der Einzelne aber reifen. Und mit ihm die Gesellschaft. Im wohligen Wohlbekannten gedeiht nichts Neues.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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