Kolumne Gesellschaftskunde Die Sache mit dem Rechtsempfinden

Düsseldorf · Richter und Gesetze folgen nicht Stimmungen. Deswegen war der Satz von NRW-Innenminister Herbert Reul über das Rechtsempfinden der Bevölkerung grundfalsch. Das Recht bildet aber sehr wohl gesellschaftlichen Wandel ab.

 NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) musste für seinen Satz zum „Rechtsempfinden“ viel Kritik einstecken – zu Recht.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) musste für seinen Satz zum „Rechtsempfinden“ viel Kritik einstecken – zu Recht.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben – der Satz geht auf den Römer Boethius zurück, der über Menschen klagte, die gern ein paar Worte zu viel machen. Hättest du es etwas anders und an anderer Stelle gesagt, wäre alles kein Problem gewesen, könnte man in diesen Tagen NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) zurufen. Der hatte nach dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, dass der Gefährder Sami A. aus Tunesien nach Deutschland zurückgeholt werden muss, gesagt: „Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen. Ich zweifle, ob das bei diesem Beschluss der Fall ist.“

Ein Sturm der berechtigten Entrüstung war die Folge. Dem Innenminister ging es um schlichte Richterschelte, daran besteht wenig Zweifel. Auch das „Rechtsempfinden“ ist schwierig, schon weil es rhetorisch so unangenehm nah ans „gesunde Volksempfinden“ herankommt. Mit dem Begriff bemäntelten die Nazis, dass sie Recht als Instrument des Terrors einsetzten (und nein, Herbert Reul wollte darauf sicher nicht anspielen, als er seinen verunglückten Satz sagte).

In einem Aspekt aber zielt Reul nur knapp daneben. Denn Legislative und Jurisdiktion bewegen sich nicht im Luftleeren. Das Recht bildet politische und soziale Werte ab, die ihrerseits der Veränderung unterliegen. Es ist Funktion dessen, worauf sich eine Gesellschaft verständigt – gottlob. Sonst könnten heute noch Ehemänner die Arbeitsverträge ihrer Frauen kündigen. Und noch 1957 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Männern für rechtens. Seit 2017 gilt in Deutschland endlich die Ehe für alle.

Es tut sich was in unserem Land, und das schlägt sich in Rechtsprechung und Gesetzen nieder. Wir müssten uns Sorgen machen, wenn es anders wäre.

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