Gesellschaftskunde Nach Libyen blicken

Europa schottet sich ab – wohldosiert. Funktionierende Außengrenzen sind sicher notwendig, doch dürfen sie nicht dazu dienen, die Not der Migranten aus dem Blickfeld zu schieben.

Gesellschaftskunde: Nach Libyen blicken
Foto: Krings

Europa schottet sich ab — wohldosiert. Funktionierende Außengrenzen sind sicher notwendig, doch dürfen sie nicht dazu dienen, die Not der Migranten aus dem Blickfeld zu schieben.

Es gab Zeiten, da bestand ein moralisches Leben darin, gegebenen Regeln zu gehorchen. Das hat dem Einzelnen wenig Spielräume gelassen, aber er musste nicht selbst entscheiden, was Gut und Böse, was richtig oder falsch ist.

Mit der Selbstbefreiung des Individuums im Zuge der Aufklärung, der gewonnen Freiheit und der schwindenden Verbindlichkeit ethischer Regeln, ist diese Aufgabe dem Einzelnen zugefallen. Er muss selbst entscheiden, was er für richtig hält. Natürlich bewegt er sich dabei im Wertesystem, in dem er lebt. Aber welchen Vorbildern er folgt, welche Maxime er anerkennt und wo seine persönlichen Schmerzgrenzen verlaufen, bestimmt er selbst. Und er trägt allein die Verantwortung für seine Entscheidungen.

Oft ist das eine Überforderung. Und wenn Menschen mit viel Aufwand versuchen, ein möglichst verantwortungsvolles Leben zu führen, sich vegan ernähren, aufs Fahrrad umsteigen, Produkte aus der Region in Supermärkten ohne Verpackung kaufen, dann ist das der Versuch, "es richtig zu machen", gut zu leben, möglichst wenig Schaden anzurichten. Und es ist eine Reaktion auf die Ungewissheit, mit der wir moralische Entscheidungen treffen - und verantworten müssen.

Man kann diese Ungewissheit beklagen, man kann sie aber auch als Motor verstehen, der jeden Einzelnen antreibt, seinen Lebensstil zu reflektieren. Gerade in Zeiten von Wahlen zeigt sich, ob in einer Gesellschaft Menschen egal welcher politischen Überzeugung leben, die sich für das Miteinander verantwortlich fühlen oder ob Wut und Frust regieren und Machthaber emporbringen, die in Freund-Feind-Mustern denken.

Selbstbestimmt seinen moralischen Kompass zu justieren, verlangt allerdings, sich selbst in Frage zu stellen. Auch beim Thema Migration. Es ist nicht wegzudiskutieren, dass Menschen in Europa allein durch den Zufall ihrer Geburt in Wohlstand und relativer Sicherheit leben. Dieses Glück bedeutet Verantwortung, sonst wird Europa eine dekadente Festung der Glückseligen. Wenn nun schon in Libyen darüber entschieden werden soll, ob Migranten nach Europa kommen, dient das auch dazu, die Not vieler Menschen auf Distanz zu halten.

Wir können nicht allen helfen, heißt es nun oft. Das ist wahr. Aber das Schicksal von Menschen an Europas Außengrenzen geht die Menschen in Europa etwas an. Was daraus folgt, ist zu diskutieren. Es gibt auf moralische Fragen keine einfachen Antworten mehr. Zu stellen aber sind sie. Wegschauen ist bequem, redlich ist es nicht.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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