Kolumne Gesellschaftskunde Was das Modewort "Narrativ" verrät

Düsseldorf · Immer häufiger wird der Begriff "Narrativ" verwendet. Manchmal falsch, wenn eigentlich nur "Erzählung" gemeint ist. Doch offenbart der inflationäre Gebrauch auch das Bedürfnis nach Orientierung.

 Unsere Autorin Dorothee Krings.

Unsere Autorin Dorothee Krings.

Foto: Krings

Sprache ist lebendig. Darum unterliegt sie auch gewissen Moden; und es kommen immer wieder Begriffe auf, die eine Zeit lang in aller Munde sind. Manchmal sind solche Modewörter schlicht so schwammig, dass sie alles Mögliche aufsaugen, also auf bequeme Weise Komplexität reduzieren.

"Nachhaltig" ist so ein Wort. Plötzlich sollte alles nachhaltig sein, vom Bildungsprogramm bis zur Bauweise von Häusern. Der Begriff steht für eine diffuse Sehnsucht nach Beständigkeit und reduzierter Umweltbelastung durch den Menschen. So spiegelt er das Unbehagen an der Flüchtigkeit der Zeit und die Furcht vor der Verwundbarkeit des Planeten.

Modewörter sind also meist mehr als zufällig nachgeplapperte Begriffe. Gerade ihr verstärkter Gebrauch verrät oft einen Sinneswandel, der plötzlich Ausdruck findet. Dann sind Modewörter Symptome für gesellschaftliche Phänomene.

Bezeichnend also, dass das Wort "Narrativ" so häufig benutzt wird. Ähnlich wie vor einiger Zeit alles eine "Philosophie" haben sollte, selbst Supermarktketten mit neuem Werbeauftritt, so ist man heute in diversen Lebensbereichen und Geschäftsfeldern auf der Suche nach "dem Narrativ". Das ist eine sinnstiftende Erzählung.

Die Vorstellung, in den USA habe jeder Mensch die Chance, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, ist ein bekanntes Beispiel für eine solche Erzählung, die Werte vermittelt und einer ganzen Gesellschaft zur Selbstvergewisserung dienen kann.

Forscher haben herausgefunden, dass Narrative vor allem in Krisenzeiten geboren werden. Wenn Menschen nach Orientierung suchen, haben sinnstiftende Geschichten Konjunktur; bildhafte Vorstellungen wie die Tellerwäscherformel setzen sich durch.

Narrative stiften Identität

Wenn nun also ständig vom Narrativ die Rede ist, zeigt das den gewachsenen Hunger nach Sinnstiftung in unserer Zeit. Menschen suchen überall nach Geschichten, die ihnen deutlich machen können, wer sie sind und in welcher Zeit sie leben. Sie sehen darin ein Heilmittel gegen den Zerfall in so vielen Lebensbereichen.

Darum hört man den Satz, Europa brauche ein neues Narrativ, oder den, Deutschland müsse ein Narrativ als Einwandererland entwickeln. Gerade wenn alte Strukturen zerbröseln oder das zumindest in politisch bewegten Zeiten so erscheint, wird der Ruf nach Metaerzählungen laut, die für neuen Halt sorgen sollen.

Narrative stiften Identität, darum sind sie wertvoll für Gemeinschaften. Doch sollte man ihren ideologischen Gehalt hinterfragen. Und aufmerksam werden, wenn überall nach Sinnerzählungen gerufen wird.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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