Gesellschaftskunde Gemeinschaftssinn ist ein evolutionärer Vorteil

Charles Darwins Thesen wurden lange als Recht des Stärkeren ausgelegt. Doch heute glauben Forscher, dass Gemeinschaftssinn die wahre Triebfeder der Evolution ist.

In großen Theorien spiegelt sich manchmal der Zeitgeist. Charles Darwins Überlegungen zur Entwicklung der Arten etwa sind lange falsch ausgelegt worden. Früher leitete man daraus die Vorstellung ab, in der Natur setze sich stets der Stärkere durch. Zwar versah Darwin seine Thesen bald mit dem Schlagwort vom "Survival of the fittest" – also dem Überleben der bestangepassten Arten. Doch schlüssiger erschien im Zeitalter des Kolonialismus, des Nationalismus und der Weltkriege die Vorstellung, die Arten befänden sich in einem Vernichtungskampf, den nur die Härtesten überlebten. Mit Darwin galt es nicht nur als natürlich, die eigenen Interessen mit aller Gewalt durchzusetzen, es war auf einmal eine Frage des Überlebens – der gesamten Gemeinschaft. So gibt man Gewalt ein hehres Ziel und entlastet das Gewissen des Einzelnen.

Inzwischen sind wir im Zeitalter der Genetik und der globalisierten Märkte angekommen, und so ist aus dem angeblich natürlichen Recht des Stärkeren die Theorie von der Überlegenheit der angepassten Arten geworden. Doch noch immer steht dahinter die Idee, die Entwicklung der Natur beruhe auf einem Kampf zwischen den Arten, bei dem nun eben die Anpassungsfähigsten siegen. Diese Vorstellung passt in unsere Zeit, in der Konkurrenzkampf als Qualitätsgarant gilt, Flexibilität als Voraussetzung für Erfolg und sich der Einzelne eben arrangiert, je geschmeidiger, desto karrieretauglicher.

Doch nun melden sich Forscher wie der Neurobiologe Joachim Bauer, die sagen, dass die Fähigkeit, selbstlos zu handeln und kooperative Systeme aufzubauen, der wahre Vorteil beim Überleben ist. Nicht Egoismus, sondern das Streben nach Gemeinschaft sei die Triebfeder der Evolution. "Am Anfang allen Lebens standen Resonanz und Kooperation: Nur dadurch konnte einst aus einer Gruppe anorganischer Moleküle ein erstes lebendes System entstehen", sagt Bauer. Aggressiv reagiere der Mensch vor allem auf Schmerzen – auch seelische. Etwa wenn er aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen oder gedemütigt werde.

Statt sich also im Kampf der Arten zu wähnen, Anpassung zu predigen und mit aller Macht die eigenen Stärken durchsetzen zu wollen, sollte der moderne Mensch sich in Achtsamkeit und Kooperation üben. Er muss nur in sich hineinhören: Einsamer Erfolg macht die meisten Menschen nicht glücklich – gelingende Beziehungen schon.

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(RP)
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