Kolumne: Gesellschaftskunde Die Welt wird immer grafischer

Statt Gebrauchsanweisungen zu studieren, schauen viele Leute Erklärfilme im Internet. Das ist einfach und funktioniert bestens. Doch wer wirklich denken will, muss sich mit Texten mühen.

Wenn Ärzte in früheren Zeiten eine Diagnose stellen wollten, mussten sie eingehend mit ihren Patienten reden, mussten sie nach ihren Beschwerden fragen, im Gespräch zu ergründen versuchen, auf welche Symptome sich die Beschreibungen der Kranken zusammenfassen ließen, was deren subjektiven Empfinden entsprach, was auf objektive Schmerzen und Fehlfunktionen zurückging. Medizin war eine interpretierende, eine einfühlsame Wissenschaft, sie hatte mit Menschenkenntnis zu tun und mit Sprache.

Heute ist die Medizin eine Bild getriebene Wissenschaft. Nicht mehr der Dialog mit dem Patienten muss Anhalt geben, sondern die Auswertung von Daten, die sich grafisch darstellen lassen. Das ist alles viel genauer, verlässlicher, objektiver als die Diagnosemethoden früherer Zeiten und wer je sah, wie Radiologen durch die feinen Schichtaufnahmen eines Magnetresonanztomographen (MRT) blättern, wie sie einen Körper mit höchster Präzision erfassen, der wird beeindruckt und für den technischen Fortschritt dankbar sein. Aber das Zuhören und Einfühlen, der empathische Dialog haben an Bedeutung verloren. Und das gilt nicht nur in der Medizin.

Der Mensch erschließt sich die Welt zunehmend grafisch. Auf Computern und Telefonen wischt er sich durch Bedieneroberflächen, die ihm mit Symbolen und Bildchen den Weg weisen. Kaum gibt es noch schriftliche Gebrauchsanweisungen. Möbelhäuser liefern ihre Bauanweisungen als Strichmännchen-Comic. Geräte müssen sich über Piktogramme selbst erklären. Für komplexere Vorgänge von der Computerbedienung bis zu Handarbeiten oder Kochrezepten gibt es Erklärfilmchen, so genannte Explainas im Internet. Und das funktioniert bestens.

Das Vormachen, Abschauen, aus Bildern lernen tritt also den Siegeszug über die rein sprachliche Erklärung an. Die akutelle Begeisterung von Kindern für Loom-Bänder, bunte Armbändern, die aus Gummiringen geschlungen werden, hängt auch damit zusammen, dass sie bei Youtube immer neue Strick-Anleitungsfilme finden und einfach nachahmen können.

Dagegen berichten Lehrer seit Langem, dass Kinder immer mehr Schwierigkeiten haben, sich aus Texten Sachverhalte zu erschließen. Und erst damit beginnt wirkliches Denken. So bequem das Leben nach Bildern also ist, wer den Umgang mit Texten nicht lernt, dem bleibt eine Welt verschlossen, der kommt aus dem Nachahm-Modus nicht hinaus. Texte sind anstrengend. Das sollten sie uns wert sein.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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