Kolumne: Gesellschaftskunde Die Suche nach dem Selbst führt oft in die Irre

Viele Menschen setzen sich mit der eigenen Selbstverwirklichung unter Druck. Dabei verwirklicht man sich in jeder wahrhaftigen Begegnung mit anderen Menschen.

In freien Gesellschaften können Menschen wählen, wie sie leben wollen, was sie für ihre Zukunft planen, welche Werte ihren Weg bestimmen. Sie unterliegen immer weniger moralischen Zwängen, immer weniger starren Regeln der Lebensführung. Das ist ein Privileg. Doch mit dieser Freiheit ist eine neue Aufgabe entstanden: der Auftrag, man selbst zu werden.

Selbstverwirklichung ist das Glücksversprechen unserer Zeit - und damit ist das Individuum unter Entfaltungsdruck geraten. Bei Partys erzählt man sich, was man "für sich tut", welche Freizeitbeschäftigungen helfen, "bei sich selbst anzukommen". Längst werden auch Religion und Weltanschauungen auf ihr Potenzial befragt, bei der Selbstfindung zu unterstützen. Es geht nicht mehr darum, sich einer Idee oder Überzeugung zu verschreiben, sondern umgekehrt zu prüfen, wie eine Geisteshaltung der persönlichen Entfaltung nützen könnte. Dahinter steht die Idee eines authentischen Selbst, das der Einzelne nur finden müsse, um ein Leben zu bekommen, das sich nicht mehr so entfremdet anfühlt. Werde du selbst, und das echte Leben kann beginnen - so lautet die Verheißung.

In Zeiten mit geringerer persönlicher Freiheit stand das Individuum noch ganz in der Spannung zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Es konnte sich nur so weit entfalten, wie es die Grenzen der sozialen Klasse und der moralischen Vorstellungen zuließen.

Daraus ist die Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem geworden. Es liegt jetzt an jedem Einzelnen, wie viel er für sich möglich macht, wie weit er es bringt auf dem Weg zum befreiten Selbst. Und weil dieses Selbst so schwer zu greifen ist, werden die Versuche immer spektakulärer. Heilfasten im Himalaya, Fallschirmspringen über der Wüste, Klettern in der Steilwand: Je verwegener der Einsatz ist, so scheint es für manche, desto spannender die Persönlichkeit, die sich da selbst herausfordert, um sich selbst zu begegnen.

Dabei ist es doch viel einfacher. Es sind doch die Begegnungen mit anderen, die Menschen reifen lassen und das Leben erfüllen. Man muss sich gar nicht auf aufwendige Abenteuer begeben, um bei sich selbst anzukommen. Es reicht, den kleinen Herausforderungen des Alltags nicht aus dem Weg zu gehen, die alte Tante im Seniorenstift nicht zu vergessen, wahrhaftige Gespräche zu suchen, wo sonst höfliches Desinteresse herrscht. Denn sich selbst muss man gar nicht suchen, man erlebt sich am besten im Umgang mit dem Nächsten - und bewährt sich in dem, was das Leben bringt.

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(RP)
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