Kolumne: Gesellschaftskunde Die eigene Lebenszeit nicht schwänzen

Düsseldorf · Manche Menschen wagen in ihrem Leben immer wieder Neuanfänge, nehmen dafür Brüche in Kauf, lassen Gewohntes zurück, riskieren ihr Scheitern an ungewohnten Aufgaben und in neuen Zusammenhängen. Der österreichische Aktionskünstler André Heller ist so ein Mensch.

Kolumne: Gesellschaftskunde: Die eigene Lebenszeit nicht schwänzen
Foto: Krings

Man kann zu seinen circensischen Großprojekten stehen, wie man will — Heller hat sich nie in Bekanntem ausgeruht, hat Karrierepfade verlassen, sobald sie ihm ausgetreten erschienen, und besitzt den positiven Größenwahn von Menschen, die irgendwann beschließen, Künstler zu sein. Doch was treibt solche Leute an?

"Man darf seine eigene Lebenszeit nicht schwänzen", hat Heller jetzt in einem Interview gesagt. Das ist eine schöne Neuformulierung des alten "Carpe diem". Die Mahnung, den Tag, die Zeit, die einem beschieden ist, zu nutzen, ist also noch immer ein tauglicher Unruheherd. Die eigene Sterblichkeit ist ja nicht nur eine fundamentale Bedrohung, sie kann auch Kräfte freisetzen, wenn Menschen sich dazu zwingen, in Abständen innezuhalten, ihren Standpunkt im Leben zu bestimmen, danach zu fragen, wohin es weitergehen soll.

Das ist kein Appell zu mehr Selbstverwirklichung, die oft nur das Ego nährt, sondern zu immerwährender Wachsamkeit gegenüber dem eigenen Tun. Der Lebensstandard hierzulande mit all seinen Möglichkeiten für ein sinnerfülltes Leben bedeutet eben auch Verantwortung. Wer in Freiheit lebt, muss sich die Frage stellen, ob er sie auch nutzt. Und wofür.

Von Zeit zu Zeit muss sich der Mensch einen Ruck geben, bereit sein für Veränderung, auch wenn das Risiken bedeutet. Dafür braucht es Offenheit und Neugier auf das Leben. Die aber schwindet.

Die vielen Zerstreuungsangebote des modernen Lebens machen es leicht, sich vor den großen Fragen nach dem Lebenssinn zu drücken. Oft ist es aber auch schlicht mangelnde Neugier auf das Leben und die Leute, denen man darin begegnen kann, die Menschen vor den eigenen Möglichkeiten flüchten lässt. Es ist in diesen Wochen so viel von Grenzziehung, Abwehr, Abschottung die Rede. Da erscheint Offenheit vielen schon fast als Schimpfwort, als Bedrohung des Status quo; und die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes, oft auch Irritierendes einzulassen, sinkt.

Wenn jetzt immer harscher über Grenzkontrollen diskutiert wird, Hardliner als die neuen Macher erscheinen, dann hat das Folgen für das Klima in einem Land. Europa war überfordert in den vergangenen Monaten, doch sollte das nur Anlass sein, verbindliche Regeln für die Einwanderung zu finden. Der Moralüberschuss, mit dem das bisher diskutiert wird, sorgt nur für Verhärtung — und eine Enge im Denken, die sich Europa nicht leisten kann.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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